Du hast mir vor einiger Zeit eine Freundschaftsanfrage geschickt und mir fällt beim Lesen deiner Texte immer wieder auf, dass ich fast nichts über dich weiß. Wer bist du; wie sieht dein Alltag aus? Lieber Herr H., das ist vielleicht der erste Unterschied: ich spreche lieber von Freundschaftseinladungen, denn ich lade damit jemanden in mein Leben ein. Ich bin auch nur jemand, von dem ich erzähle; meine virtuelle Identität ist nicht getrennt von dem, was ich im sog. echten Leben tue. Vielleicht ist sie mutiger; manchmal schreibe ich Menschen, nur weil mir ihr Profilbild gefällt, oder weil mich ihr Gesicht an etwas erinnert. Manchmal werfe ich Leute von meiner Freundesliste, wenn mir auffällt, dass ich seit Monaten oder Jahren kein Gespräch mit ihnen geführt habe. Dass da bloß Schweigen zwischen uns ist, ein Geruch von Schatten. Vergangene Woche habe ich bei facebook darum gebeten, dass jemand käme, um meine Hand zu halten, weil ich einen wichtigen Termin hatte. Die meisten Antworten bestanden aus Likes oder aus Kommentaren, halb neugierig, halb neidisch, was die Sozialversagerin Frau Baum denn bei den großen, wichtigen Leuten zu schaffen habe. Abgesteppte Lächelworte. Bonbonworte. Es gab nur wenige, die mir aufrichtig Glück gewünscht haben, und niemanden, der tatsächlich angeboten hätte, zu kommen. Danach hätte ich gern meine Freundesliste ausgemistet; es wären vielleicht zehn Menschen übrig geblieben. Aber so funktioniert das eben nicht, weder online noch offline. Um Hilfe zu bitten, ist, wie einen Brief ins Leere zu schreiben, ein Vermisstenflugblatt, und manchmal verstaubt es ungesehen auf dem Boden. Niemand ist irgendwem etwas schuldig; vielleicht fehlt es an eigener Kraft, an Mut, Zeit oder schlichtweg an Lust. Manchmal hat man eben Glück, so wie ich Glück hatte, so wie mich über Jahre, in denen ich zu krank war, um das Haus zu verlassen, Menschen begleitet haben, in Mails, Anrufen und Besuchen. Manchmal teilt man einen besonderen Moment, in dem man den anderen wie blind versteht, und da, wo man ihn nicht versteht, von ihm lernen will. Einen Moment, in dem man spürt, hier fängt etwas an, etwas, das tragen kann. Aber meist denke ich, es geht ohnehin nicht um das, was wirklich gesagt wird, die Semantik wird zurecht gebogen, um unsere Wünsche gewickelt. Selbst im Schlaf durchzucken sie unsere Körper: restless legs und verzogene Münder. Was gesagt wird, ist Traumarchitektur, in Regen gewälzte Geschichten, und heute, Herr H., will ich keine Geschichte erzählen.