Tag 23 ohne mehr als drei, vier Stunden im Nachtgepäck, nicht mal eine Faust voll Träume, wozu auch Weiß ins Augenrot mischen, kurz vorm Sturz bin ich immer am schönsten gewesen, also begegne ich Menschen, spreche von Plänen, Aussichten, als könnte dieser Körper je etwas anderes als Feind sein. Es braucht nur wenige Sätze, Schritte, um ins Straucheln zu kommen, mein Herz scheint sich ins Körperinnere übergeben zu wollen, es hat mich satt, wer wollte ihm das verübeln, ich war immer nur fürs Fallen zu begeistern, nicht dafür, für mich zu sorgen. Meine Augen machen mich zum Tier, braungroß aufgerissen, wer mir begegnet, leuchtet mich scheinwerfergrell aus, ich schicke meine Geschichten wie Sonden nach vorn. Es gibt keine Wurzeln, zu keiner Seite hin, ich bin Satellit, der dich herznah umkreist, Mädchentraktat, eine Charge SOS- Geschwätz. Glasscheibenwort, blank gewienert, und was nach aller Mühe zu sehen ist, bist bloß du selbst – meine Sprache trägt nicht, nicht einmal mich, sie splittert in deiner Hand; was ich bin, liegt irgendwo unter den Scherben. Die beste Frage: Welche ungelebte Möglichkeit könntest du am wenigsten ertragen? Dass ich ausgebreiteten Armen bloß Koffer voller Abschiedsbriefe entgegen gestreckt habe. Dass ich nicht heim ging, als ich noch konnte. Aufgeben ist ein Monolog und steht am Ende einer misslungenen Vorstellung. 23 Mal murmeln: wenn ich diese Nacht überstehe… Wenn ich den dunkelsten Punkt überwinde, will ich mutig genug sein, mich gern zu haben. Du bist mein Zeuge, dir sprech ich mich zu. Vielleicht ist die Not heute groß genug, um mich zur Heldin zu machen.


| l’hiver dernier |
Ein Seifenblasendreher ist humorlos wie Nieselregen und zählt die Schatten unter den Schatten der Augen. Er hat alles Weiche aus seinem Gesicht rasiert; er erobert mit dem rechten Fuß die Bettdecke und vergisst, dass da niemand ist, mit dem er um sie kämpfen muss. Ein Seifenblasendreher denkt nicht in Begriffen wie Einsamkeit, dieses Konzept unterstützt er nicht, er würde aus den gleichen Gründen nie aus einem Fenster stürzen - die Idee des Fallens sagt ihm nicht zu. Vor seinem Fenster tanzt mein Gruß; kein Lächeln tritt in seine Fußstapfen. Das Maßband der Dinge bleibt still und schmal am äußeren Wimpernrand. Vor dem Fenster des Seifenblasendrehers strandet mein Lied, meine Fragezeichen treiben die Hauswand entlang, tippexweiße Finger tasten nach einem neuen, einem frisch geschorenen Wort, aber der Mund eines Seifenblasendrehers ist schlecht geschnitten, es gibt kein Geräusch einer Regung, jeder Schritt wäre zu weit und zu viel. Die Fahnen stehen auf Herzhalbmast; das hier ist die Zeit des Abschied nehmens und es ist kein Ende in Sicht.


Um uns braut sich ein neuer Tag zusammen, ich reibe mir die letzten Tropfen vom Gesicht, die Katze schiebt sich neben mich, bis auf Weiteres wird nicht mehr geweint, sage ich ihr und sie schnurrt Bestätigung. Die ersten Streifen Morgen ziehen am Himmel auf, das Licht flankiert uns wie ein Versprechen und ich verwerfe gestern wie die schlechte Idee, die es war. Gestern, ein geologisches Geheimnis, und Erinnern: ein Wühlen, ein Graben nach Fußnoten, gemeißelten Fahrtenschreibern. Spuren, die vielleicht historisch und in jedem Fall sinnlos sind. Erinnern: eine morbide Unternehmung, ein schon in der ersten Note verpfuschter Gesang. Gestern ist nichts weiter als der Ort, an dem mindestens einer weint. Ich will nichts mehr im Schlepptau haben. Ich werde meine Muttersprache nicht mehr sprechen. Es ist egal, ob Blut dicker als Wasser ist - Blut bedeutet, dass man verletzt wurde. Die Katze drückt ihren Kopf gegen meine Beine, drückt mich zurück ins Zimmer, dem Ort für neue Chronologien. Das Atmen des Jungen neben mir: etwas wie Freude.


Wahrscheinlich kannst du nicht fassen, wie schnell die Jahre vergangen sind, Tove, warum sollte es dir besser gehen als mir. Wie stellst du dir mich vor? Vielleicht bin ich ein alter Bibliothekar mit Nickelbrille, der nachts die Seitenzahlen der Bücher überprüft, nicht bei Kerzenlicht, das wäre zu gefährlich. Vielleicht bin ich Waffenhändler und überschlage die Leben, die ich zu verantworten habe, wenn ich nicht schlafen kann. Vielleicht bin ich Bäcker und sorge dafür, dass die Normalen ihren Tag wie gewohnt beginnen können. Die Normalen, mit ihren Brötchen und beruhigenden Frisuren, die ein Leben ohne Mobiltelefon für kompliziert halten, die für einen Strauß Blumen vier Wochen Rückgaberecht erwarten, die Normalen, die glücklich vor sich hin leben wollen, für eine bessere Statistik. Die Normalen, die ihren Kick durch Reflexion bekommen, aber verdammt noch mal, Alufolie reflektiert auch. Am stumpfsinnigsten ist es, etwas Sinnvolles tun zu wollen. Vielleicht dauert mein Gestern für immer, wie Murakami sagen würde, könntest du ihn noch lesen, ernst nehmen, Murakami mit seinem strapazierten hard-boiled-wonderland.
Hat das Leben uns überstimmt, Tove? Reichen unsere Fünf-Minuten-Fluchten nicht mehr, die Zigarette nicht, der immer zu bittere Kaffee nicht, die Fünf-Minuten-Illusion, nur juristisch erwachsen zu sein? Hast du die Suche nach nostalgischen Metaphern für Musik durch Interpretennamen ersetzt, hast du das erste Auto gekauft, bist in eine eigene Wohnung gezogen, eine Kellerwohnung mit viel Ruhe und Plattensammlung, dein eigenes, strapazierfähiges Semi-Paradies?
Hast du festgestellt, dass Reisen nicht mehr reicht, um Erinnerungen zu produzieren, und dass der Alltag schweres Handwerk ist? Der Pflichtteil heißt Träumen, Tove, und vielleicht bist du ein Versager geworden, aufgeschwemmt im bodenständigen Gefühl volljähriger Sätze: Dem Glauben, das Richtige zu sagen. Scheitern kann man an den einfachen Dingen. Scheitern heißt, deine Traurigkeit nicht mehr zu brauchen, scheitern heißt, dass alles an seinem Platz ist. Scheitern ist primitivste Zufriedenheit, Scheitern ist Routine - du weißt, dass du selten noch stürzt, aber immer weißt, wohin du fallen wirst. Scheitern heißt, dass dir die Fragen ausgehen, die wichtigen Fragen. „Was habe ich zu erzählen?“ Ich kann nicht mehr blindlings ins Leere schreiben, nicht mehr über die Grammatik straucheln und an Ideen ohne Boden. Es gibt Wichtigeres als das Schreiben, sonst gäbe es nichts, worüber man schreiben kann, eines Tages, nicht heute. Ich schreibe nicht mehr. Das hier ist nur die Einleitung zu einem Brief an dich, Tove, eine Einleitung, mit der du mich finden kannst. Wenn du willst.