✪
Wichtig ist, nie beim Anfang zu beginnen. Die Zähne hell und glatt geknirscht, unter unzählige Züge geweint – der Raum, den es gab, dieser Welt-Raum, war zu groß für mich, ich ging in jedem Tag verloren. Und jetzt: in dich eingewickelt, egal, wo wir sind, mein Blick klettert nach oben; was wir sehen, weist selten genug über uns hinaus. Und jetzt: eine Möglichkeit hinter fleckigen Fabrikhallendecken, hinter Plakatauslagen, Bremslichtergasen, hinter Stumpfastbäumen, hinter dem Seiltanz dieses Moments ist alles durchschaubar. Alles spielt eine Rolle, die Rolle der anderen, ein dunstiger Film, maximal schwarzweiß.
Und wir: fern von dieser grobkörnigen, jahrhundertelang geatmeten Luft, wir fliegen wie Pinguine unter Wasser, unsere unwegsame Welt muss nicht erklärt und nicht gerettet werden. Mit dir nur noch neues, helles Fleisch, mit dir über die alten Narben rudern, den Blick abgewandt, in eine Zeit, in der ich liebe. Wichtig ist, nie beim Anfang zu beginnen. Ich erinnere mich: nichts kann mir mehr zu nah kommen, denn da bist überall du.
http://www.youtube.com/watch?v=GTkzyyv0DuA
✪ Cordreste
Unter der Woche reicht unser Blick bis zur Tür. Wir müssen gefasst sein auf Gamaschenweiß, auf vermessenes Magenta und bewegungsloses Gelb. Wer uns besucht, hat schlechte Nachrichten im Gepäck. Unsere Kunden haben Knopfaugen und Reißverschlussstimmen. Sie wollen unsichtbare Flicken, und sie wollen sie jetzt. Sie legen korkbraune Hosen und Rhabarberrüschenröcke auf den Tisch. Unser Nein liegt scharf unter Zungenpapier, wir können es uns nicht leisten. Schlammtöne verfolgen uns im Schlaf. Zum Trost beißen wir Butterkeksen die unsauberen Ränder ab. Dem Kaffee fehlt Milchzuversicht. Wir flicken mürrisch dünn gewordene Stellen; ungezählte Sicherheitsnadeln sind schon über Bord gegangen. Ich werfe Perlen vor deinen Saum; wir streiten um Borten und Stichlängen. Mittags pausen wir Worte vom Reißbrett und schneiden ein Lächeln zurecht. In unseren Jackentaschen klappern Notfallnadelkissen; an unseren Händen sind Stiche zu sehen.
Im Urlaub zupfen wir gedankenverloren an Tischdecken und Kellnerschürzen. Wir schließen Hotelzimmertüren, öffnen Hemd- und Blusenkragen, fühlen nichts vom Teppich, auf dem wir stehen - seine Fransen krallen sich unerkannt um unsere Füße. Das Rot deiner Baumwolle: satt wie ein erster Schluck Wein. An meinen Oberschenkeln sammelt sich Tüll. Deine Hand nimmt die erste Etappe; sie kocht alle Farben ein. Dein Kuss schmeckt nach Cordresten.
Zuhause will ich würziggrüne Karos und kokosnussweißen Samt. Wir greifen blind ins Stoffregal; nur mit geschlossenen Augen erkennen wir, was wir wollen. Wir prellen die Verkäufer um gerechte Preise, wir geben uns kühn. Kaum haben wir den Laden verlassen, greifen wir in die Taschen. Andacht im Fühlen, wir wollen es glatt und schimmernd und unverbraucht. Das Weiche ist unser Gewinn.
✪ Stanniolpapier
Hör mir zu
Die Katze leckt sich hektisch übers Fell, als ob sie damit etwas aufhalten könnte. Mutter schaufelt Sahne auf den Kuchen, ihre Stimme schaufelt synchron in meinem Bauch Schlamm nach oben. Verdunklungsgefahr. Mutter lächelt dazu, ihr Schauspiel kann alles zur Kulisse erklären. Wir sitzen auf Gartenstühlen, die sie mitgebracht hat, Mutter schafft sich überall einen Platz und beißt sich im Kirschkuchen fest, im Nachmittagslicht flackern ihre Zähne gelblich, mit etwas mehr Intensität könnte es Kurkuma sein, die letzte Verfeinerung für ein gelungenes Curry. Ich bringe nichts herunter, in jedem fleischigen Kuchenstück stecken Mutters Adern, kirschblutrot wie die Lippen in ihrem Gelatinegesicht.
Jeder Krümel eine Hautschuppe, Mutter kehrt sie zusammen, unter ihren marzipanfarbenen Nägeln sammelt sich Schutt. Ich greife zur Kaffeekanne, wenn ich mir schon nicht in den schmerzenden Bauch greifen kann, meine weichen, teigigen Verzweiflungsringe kneten, mich selbst für den nächsten Kuchen verwenden.
Der Weg nach oben endet am Fenster, ich bin verschwommener Umriss mit zerkochter Stirn. Unten gibt es Trümmer, die ich zu verantworten habe, Menschen und Rasen, ein Tanz aus Chromosomen und Chlorophyll. Mein Junge, der die Arme verschränkt, und Mutter mit breitem Lächeln und breiten Schultern, breit und ausgebeult von der Last der Welt und ihren Schulterpolstern. Das hier kann nicht jetzt sein, die heiße Stirn mit Anlauf an die kotzgrünen Kacheln der Badezimmerwand gelehnt. Meine Hände legen sich fester an den Fensterrahmen. Zählt Halt noch als Halt, wenn man ihn nur sucht, um wieder loszulassen?
Was mit meinen Schuhen passiert ist, weiß ich nicht. Meine rot bestrumpften Füße stehen auf der kalten Heizung, meine Zehen in die schmalen, berechenbaren Schluchten geklemmt. Die Fensterflügel weit offen, das Weiß der Rahmen platzt in Fetzen herunter. Ich denke an Wind, an ein leichtes Beugen nach vorn.
Unten ist Mutter von Kirschkuchen zu Kirschlikör übergegangen, versucht, ihre Finger ins Fell der sich sträubenden Katze zu krallen - was Mutter gemütlich nennt, ist schon immer Hohn gewesen und es ist, als hätte ich erneut nur eine Handvoll Jahre vorzuweisen, als läge alles in ihrer Macht, als läge ich mit ihr am Rand der Welt, dort, wo niemand schläft.
Die Minuten gähnen sich von mir weg, ziehen käsehelle Fäden, in ihrem klebrigen Geflecht ist der Junge verschwunden, ich blinzle krampfhaft, aber er greift von hinten um meine Hüfte und hebt mich von der Heizung. Einen Moment lang baumeln meine nylonroten Füße in der Luft - ich wollte doch haltlos sein -, bevor sie auf glattem Boden landen und der Blick des Jungen sich schärfer in meine Wangen brennt, als jede Ohrfeige es zustande brächte.
Er nimmt meine Hand und der Schlamm zieht sich zusammen, klumpt und sinkt, in meinen Magen, vielleicht auch tiefer, vielleicht hinterlasse ich schwarze Fußspuren auf dem Weg nach unten, die Kaffeekanne ist im Bad geblieben, bevor Mutter danach fragen kann, sagt der Junge etwas, das das Rot meiner Nylons in Mutters Gesicht treibt, sie rafft Gesichtszüge und Gartenstühle zusammen, ihr Mund klappt auf und zu, die aufgeschwemmte Milchstraße ihrer Arme rudert durch die Dämmerung, greift im Verschwinden nach den ersten Sternen, packt sie in Stanniolpapier. Blut ist vielleicht dicker als Wasser, sagt der Junge, vor Allem aber heißt Blut, dass du verwundet worden bist.