drama?

Ze Zurrealism Itzelf


| going dark |

Sophia Mandelbaum. Ein Name, der irgendwann im Sommer zu mir kam. Ein Name, den ich brauchte, weil ich meinen eigenen so leid war. Sophia Mandelbaum war alles, was ich nicht sein konnte. Sie gab nie klare Antworten. Sie war die Richtige für schiefe Metaphern. Sie war schön, photoshopschön. Und sie schrieb ihren Schmerz und ihre Wut und jedes andere große Wort, das es eben brauchte, in die Welt hinaus, ganz egal, was diese Welt davon halten mochte, denn sie wusste, dass sie ohnehin nie dazu gehören würde. Dass sie nur in einem kleinen Zimmer Worte und Bilder zurechtschneiden und irgendwo in den Glasfaserkabeln nach einem Menschen suchen würde, einem Menschen, der sie retten könnte oder wenigstens lieben. Sophia Mandelbaum hat an Worte geglaubt, aber nicht an sich selbst. Immer, wenn es nicht weiter ging, kam ich hierher und erzählte Geschichten, verwischte Leerzeichen, sprang zwischen den Zeilen. Immer, wenn es nicht weiter ging, gab es hier jemanden, der zurück schrieb, der Satzanfänge mit Lächeln auffüllte. Mit allem, was ich erfunden habe, konnte ich hier ehrlich sein. Ich musste nicht funktionieren, nichts beweisen, ich habe mein Dunkel ausgelegt, mit der Halsschlagader nach oben, und ich hatte Glück: bislang wurde niemand verletzt.

05:24

Vor dem Fenster macht sich ein Vogel warm fürs erste Lied, während ich noch immer versuche, einzuschlafen, unterm Bett leuchtet der Wecker, ein nicht zu verfehlendes Gespenst. Als Kind habe ich im Traum versucht, die Geister in Stücke zu reißen, die mich verfolgten, bin hochgeschreckt, als jeder Fetzen sein eigenes, höhnisches Gesicht bekam und das Gelächter unerträglich polyphon wurde. Schon als Kind gab es kein Nervenkostüm in meiner Größe, schon als ich mit baumelnden Beinen an Kindergarten- und Grundschultischen saß, habe ich geahnt, dass das nichts wird mit der Normalität, nicht in diesem Leben. Eltern bringen einem nur bei, wie man in ihrer Welt überlebt, nicht in der richtigen. Ich übe ja, jeden Tag, ich übe mich darin, so zu tun, als sei auch für mich selbstverständlich, was alle anderen im Schlaf können: Schlafen, zum Beispiel. Aufstehen. Durchhalten. Nicht verzweifeln. Aber ich bleibe, was ich bin: ein Tier, das im Dunkeln lebt, in einem stillen Raum, und egal, wie ich ihn beschreibe, er wird dir fremd bleiben, denn dein Raum ist dort draußen, im Regen, im Wind. Auch wenn du dich dabei ertappst, das Gegenteil zu glauben: nichts an mir brächte dich zum Träumen. Ich bin ein blasser Nachtkurier, installiere ein Lächeln in meiner Stimme und flüstere ins Funkgerät, ohne zu wissen, wer zuhört, presse meine Stirn gegen den Bildschirm, als sei er eine kühlende Hand. Aus den Resten des Internets habe ich mir eine Stadt zusammen geklaubt, warme Worte auf mein Kleid genäht, ein Steppbett aus Sätzen, ein Kokon aus Nullen und Einsen. Ich lasse Zeilen durch meinen Körper wandern, falsche Namen, erfundene Träume. Ich verspreche, dass ich niemanden für eine Nacht suche, denn eine Nacht ist zu lang, um nicht entdeckt zu werden.

kopfkinkerlitzchen asked: tust du mir einen gefallen und empfiehlst mir deine lieblingsbücher?

Manchmal glaube ich, die Frage nach Lieblingsbüchern ist die intimste, die man einem anderen Menschen stellen kann. In jedem Zimmer, das ich bewohne, egal, für wie kurze Zeit, muss es einen Stapel Bücher geben, die durch dunkle Tage und Orte tragen können.

Schlechte Wörter (Ilse Aichinger) | Kein Ort. Nirgends (Christa Wolf) | Die Stille ist ein Geräusch (Juli Zeh) | Unter Mardern (Jo Lendle) | Der Knacks (Roger Willemsen) | Der Großinquisitor (Fjodor Dostojewskij) | Antigone (Sophokles) | Two kinds of decay (Sarah Manguso) | Die große Entfernung (Farhad Showghi) | Vereinzelt Passanten (Ron Winkler) | Ulysses (James Joyce) | Mio, mein Mio (Astrid Lindgren) | Nicht sterben (Terézia Mora) | Oranges are not the only fruit (Jeanette Winterson) | Mao II (Don deLillo) | Der Mythos von Sisyphos (Albert Camus) | Arbeit und Struktur, Tschick und Bilder deiner großen Liebe (Wolfgang Herrndorf) - und alles von Paul Celan.

make a space.

Wenn jemand stirbt, verändert das alles; eine Zeit lang, bis der Alltag dich wieder hat, das stumme Sitzen am Schreibtisch, der wenige Schlaf, die Verbissenheit, die sich immer wieder in deinen Mundwinkeln breit macht. Du schaust alle ein, zwei Stunden auf, schaust ins Licht vor den Fenstern, du hast ja noch Zeit, denkst du, bis der Abend mit einem Schlag die Dunkelheit zurück bringt und du sie wieder verschenkt hast, deine Chance auf ein bisschen Vitamin D.

Den Menschen, der zu früh gegangen ist, ehrst du am besten, indem du nicht vergisst, dass du keine Zeit hast. Dass niemand Zeit hat. Dass jeder Tag, an dem in deinem Körper kein Infarkt, kein Krebs ausbricht, ein Wunder ist oder wenigstens verdammt unwahrscheinlich.

Stell dir vor, das hier wären deine letzten Tage. Schau auf die letzten ein, zwei Jahre zurück, in denen du deinen Urlaub immer weiter verschoben hast, so weit verschoben, dass du ihn irgendwann einfach vergessen hast. Schau auf die Nachtschichten, die Wochenenden am Schreibtisch. Arbeiten, sich sinnvoll fühlen, zufrieden sogar, bis beim Zähneputzen die Angst zurück kommt, die Angst vor dem, was passiert, wenn du ersetzt wirst, denn so einen Job hast du dir ausgesucht. Einen, in dem du schnell austauschbar bist. Wenn du irgendwann nach all den Nachtschichten und dem nicht genommenen Urlaub krank wirst, zwei Wochen lang, oder sogar drei. Oder wenn jemand stirbt. Und du nicht wieder auf die Beine kommst. Wenn jemand stirbt und du über Wochen nur weinen kannst und nicht arbeiten. Dann erinnerst du dich. Dann erinnert man dich, wie ersetzbar du bist. Es sind harte Zeiten, sagen sie. Alle müssen den Gürtel enger schnallen, sagen sie. Alle, abgesehen von denen, die das sagen, denn die kriegen mehr als du, vielleicht um die fünfzehn Mal mehr, jeden Monat, ohne Weihnachtsgeld, vom Weihnachtsgeld reden sie erst gar nicht. Nicht mit dir. Und dann fällt dir auf, dass du genau dort weitermachst, wo du aufhören wolltest. Dass du so tust, als könnte man dich einfach weglassen, ohne dass irgendwas fehlt.