drama?

Ze Zurrealism Itzelf


aus Wörtern ein Zuhause bauen.

Vor deinem Tod habe ich Jahre damit zugebracht, aufs Sterben zu warten. Nacht für Nacht hörte ich meinem Herzrasen zu, die Augen angstweit geöffnet, der Blick im abstrakten Dunkel des Zimmers verloren gegangen. Das Sterben und ich, das war ein privater Krieg, ein Kampf, den ich jede Nacht aufs Neue ausfocht und aus dem ich mit tiefen Augenringen erwachte. Ein Sisyphuskampf und damit: erwartbar. Das immerhin ist das Gute an einem bunten Strauß Neurosen: Sobald das Adrenalin aufgebraucht ist, glaubt man allen Ernstes, Kontrolle zu haben.

Und jetzt? Jetzt greift mir jede Todesanzeige direkt in den Magen. Jedes Blatt vom letzten Herbst sieht mir wie ein Vorbote aus; das tote Vogeljunge im Hinterhof betrauere ich wie einen Freund. Jetzt erst erkenne ich, dass ich nicht allein auf diesem Schlachtfeld stehe. Dass links und rechts von mir Menschen fallen, ja, niedergemäht werden. Der Feind bleibt unsichtbar, auch nach Tausenden von Jahren.

Seit du fort bist, habe ich begriffen, dass jeder Tag eine einzige Unwahrscheinlichkeit ist. Dass wir uns jeden Tag gegen die Statistik stemmen. Das kann nicht gutgehen; erst recht kein ganzes Leben lang.

Angst vor dem Sterben hat nur der, der noch nicht alles gesagt hat. Das Einzige, was jetzt noch zählt, was jetzt mehr als je zuvor zählt, ist das Schreiben. Die Angst mit jedem Kapitel außer Kraft setzen. Aus Wörtern ein Zuhause bauen. Ich will zurück in die Welt finden, in der es dich gab. In der du von mir nicht nur das wusstest, was ich mit dir war, sondern alles, was ich sein könnte. Und ich will, ich muss die Welt entdecken, in der ich zu ertragen gelernt habe, dass es dich nicht mehr gibt.

Johannes-Passion|

Als der Dirigent den Arm hebt, sehe ich dich. Als die Sopranistin ganz Resonanzkörper wird, als der perfekte Ton sie durchtanzt, sehe ich dich. Du bist, wo Glück aufscheint; dort gehörst du hin, das ändert sich nicht.

In den ersten Tagen nach deinem Tod glaubte ich, verrückt zu werden vor Schmerz; in der dunkelsten Nacht träumte ich von dir. Du standest auf einer Bühne, der Boden dunkel und glänzend, hinter dir waren verschwommen Menschen zu sehen, war leises, vergnügtes Lachen zu hören. Du lächeltest mir zu und sagtest: „Du wirst immer diejenige sein, die sich Sorgen macht, und ich werde immer derjenige sein, der dir sagt, dass du das nicht musst.“

Als die Sopranistin ihre Stimme nach oben, dem Kuppeldach des Berliner Doms entgegen schwingen lässt, als sie dem Publikum ihre Noten wie eine Opfergabe entgegenhält, die Hände gewölbt, der Rücken gerade vor Demut und Stolz, frage ich mich, ob man wirklich an etwas Größeres glauben muss, um nicht am Leben verrückt zu werden. Ob wir wirklich so tun müssen, als gäbe es mehr als ein Achselzucken dort oben, als hätte alles, was geschieht, mit irgendwelchen Regeln zu tun - als lebten und stürben wir per Gesetz.

Ich muss glauben, das weiß ich jetzt. Nicht an das große Achselzucken dort oben, sondern daran, dass es dich noch immer irgendwo gibt. „Wir machen das zusammen“, hast du gesagt, als ich Angst hatte; dieser Moment war Geborgenheit. In ihm kann ich weitergehen.

Wie betäubt durch Berlins Straßen stolpern, im Dämmerlicht. Jedem an den Hals gehen wollen, der lächelt, der lacht. Wie können sie einfach so weitermachen, wie können sie tun, als wäre nichts geschehen?

Ich hab von dir geträumt. Du standest in einem riesigen Saal, der gefüllt war mit lächelnden Menschen. Ich fühlte, dass ich nicht dazu gehörte, aber ich kämpfte mich trotzdem zu dir vor. Und als ich dir ins Gesicht schaute, sah ich durch deine Augen ins All. Deine Iriden waren Milchstraßen, bessere Worte finde ich nicht. Das schrieb ich dir am Sonntag, genau vier Wochen vor deinem Tod.

Was habe ich getan, in dem Moment, als du gestorben bist? War da ein Windstoß? Eine kleine Unregelmäßigkeit im Herzschlag?

Ich verstehe jetzt, was das bedeutet, wenn jemand sagt: Es bricht mir das Herz.

Deine Bücher waren mir alles, lange, bevor wir uns begegnet sind. Ich werde nie aufhören, dankbar zu sein, dass ich dich einen Freund nennen durfte.

Du hast mich gesehen, von Anfang an.

Wie kann diese Welt jemals wieder ein guter Ort sein, jetzt, wo es dich darin nicht mehr gibt?

Ich verstehe jetzt, warum Menschen zum Glauben finden. Das Einzige, das mich vom Verrücktwerden abhält, ist die Vorstellung, dass du irgendwo dort oben bist, und vor allem: dass du dort glücklich bist. Dass wir uns eines Tages wiedersehen werden und ich dir nichts erzählen, nichts zeigen, nichts beweisen muss. Weil du alles schon weißt.

Adieu, Roger. Du warst mir so viel.

2015: Ein Schulhofjahr. Die Augen fest auf Asphaltgrau gerichtet; das Herz in der Faust. 2015: Das Jahr, in dem du vergisst, dass es auf Schulhöfen immer die gleichen komplexverseuchten Arschlöcher gibt. Und die immer gleichen Speichellecker, die Daumen und Mundwinkel nach oben recken, solange du eine von denen bist, die mitspielen. Sobald etwas hässlich wird, ziehen Speichellecker ihre flauschigen Schwänze ein und verschwinden in schlecht ausgeleuchteten Raucherecken. Manchmal kommen sie als Arschlöcher zurück, wollen auch noch einen Eimer Scheiße über dir auskippen, im warmen Schatten der anderen.

2015: Das Jahr, in dem du dich erinnerst, dass es nicht gut gehen kann, wenn man versucht, die Falschen für sich einzunehmen.

2015: Das Jahr, in dem du anfängst, reinen Tisch zu machen.

Ich will keine Zeit mehr mit Menschen vergeuden, die nichts von sich wissen (und auch nichts von anderen). Mit Wichtig-Wichtig-Menschen und zwanghaft Distanzierten. Ich will nicht mehr dazugehören, denn dazugehören bedeutet, zu viele Gespräche zu führen, von denen nichts bleibt als ein schaler Geschmack auf der Zunge.

Ich will mich denen zuschreiben, zusprechen, die mich wirklich sehen wollen. Mit allem, was ich bin. Die zulassen, dass ich auch sie sehen kann. Ich will Wörter im Engtanz. Ich will küssen. Ich will schief und laut singen, ich will eine Hand, die meine nimmt, ich will alles sagen, was Speichelleckern peinlich und kitschig erscheint. Ich will verloren gehen. Gemeinsam mit denen, die wissen, wie man fällt. Und mit denen es sich jedes Mal gelohnt hat, wieder aufzustehen.

Danke, dass es euch gibt.