drama?

Ze Zurrealism Itzelf


stars falling from your heart.

Jetzt, wo ich dir nur noch im Schlaf begegnen kann, wiegt jede Stunde schwer, die ich traumlos vergeude. Vor deinem Tod träumte ich dich in einem Saal voller lächelnder, ätherischer Menschen. Als ich mich endlich zu dir vorgekämpft hatte, sah ich durch deine Augen ins All; deine Iriden waren Milchstraße geworden.

Über ein Jahr lang habe ich mit deinen Büchern, deinen Briefen den Tag beschlossen. Habe mich nicht in mein Bett, sondern in deine Worte gelegt, auf der Suche nach deinem Geruch, deiner Wärme. Ich wollte nicht von der Trauer lassen, ich wollte nicht einfach weitermachen.

Aber ich weiß, dass du genau das nicht gewollt hättest. Du hättest dir genau das von mir gewünscht: ein Weitermachen. Du hättest gewusst, dass es nicht einfach gewesen wäre.

Also habe ich mich zurückgetastet, ins Leben und Atmen, ins Umarmen, ins kratzige Lachen, in die ersten, zaghaften Frühlingssonnenuntergänge, in Berlins regennasse Nachtluft. Und du bist zurückgekommen. Ich stand auf einer Straße, vor mir tat sich der Raum auf. Eine Woge Licht überspülte mich und weit oben wurden drei Buchstaben Sternbild: WIR. „Wir machen das gemeinsam“, sagtest du, als ich Angst hatte. Eine gute Nacht, das heißt, dass alles stecknadelkopfklein wird neben der Tatsache, dass es uns gab.

Wenn jemand stirbt, sieht man plötzlich klar, sieht scharf gestochen alles, was sich zuvor im Unterholz des Alltags verborgen hat. Jede Verwandtschaft, die nur auf dem Papier besteht, jede Freundschaft, die ihren Namen zu Recht trägt. Jeden heimlich gehegten Groll, jede Nachlässigkeit, jede uneingestandene Liebe, jede aufgeschobene Entscheidung.

Erst seit du fort bist, habe ich wirklich begriffen, wie gut du mich gekannt hast. Wie viel du von mir verstanden hast, auch und vor allem das, was ich dir verschwiegen habe. Du hast mich mit allem gesehen, was ich so dringend verbergen wollte, du hast mir still und beharrlich bewiesen, dass genau das, dass genau diese Dunkelheit zu mir gehört, dass man sie lieben kann, weil Narben vor allem eins bedeuten: dass man gewonnen hat. Dass man überlebt hat, trotz und wegen allem. Du hast an meine Stimme geglaubt, du hast ihr einen Platz in der Welt zugewiesen, ganz selbstverständlich, so wie du selbstverständlich warst, in deiner klugen Verwegenheit, deiner spitzbübischen Eleganz.

Seit du fort bist, lese ich deine Briefe, lese ich alles, was mir von dir bleibt. Ich habe dir alles gesagt, was ich dir sagen wollte, sagen musste, aber es war nicht genug, wie hätte es je genug sein können. Ich wünschte, ich hätte dich ein Leben lang gekannt. Ich wünschte, dass ich nicht so viele Fragen und mehr Gewissheiten hätte.

An schlechten Tagen ist alles klein neben der übergroßen Tatsache, dass du fort bist. An guten Tagen ist alles klein neben der Tatsache, dass ich es dich gab. Dass du immer wieder an den Rand deines Lebens gereist bist, um mich dort zu finden. Dass ich für dich gut genug war, wird mich ein Leben lang tragen, wird mich ein Leben lang an den Menschen erinnern, der ich sein kann, an diese bestmögliche Version meiner selbst, an die du so hartnäckig geglaubt hast. Ich will so leben, dass ich dieser Version nahe komme. Ich will so leben, dass du stolz auf mich wärst.

wie groß das war, geliebt zu werden.

Wenn Liebe kein Ziel mehr hat, hört sie trotzdem nicht auf. Sie zieht nicht mal ansatzweise in Betracht, nicht weiterzumachen. Also staut sie sich in deinem Körper, scheuert dir das Herz auf. Plagt dich mit Wörtern und Sätzen, die du noch hättest sagen wollen. Plagt dich mit dem Wissen, dass diese Sätze, deine Sätze nicht gut genug sind. Denn sonst wäre alles anders, sonst ginge doch alles mit rechten Dingen zu, sonst würde sich jetzt eine Hand in deine schieben. Die Stadt hätte den Zauber ihrer geheimen Orte nicht verloren, sie wäre bunt, ohne künstlich zu sein, sie würde ihre Schönheit nicht bloß zur Täuschung benutzen.

Vielleicht gibt es nur zwei Möglichkeiten: Man treibt mit seiner Erinnerung ins Schweigen, wird ihr Knecht, dimmt das Herz herunter. Oder man betritt die Erinnerung wie einen Traum. Gräbt sich mit Helm und Stirnlampe durchs Dunkel, nimmt alles mit, was trösten kann. Jedes Buch, jedes Stück Musik, jedes herzwarme Wort. Und dann schreibt man alles neu, erschreibt sich einen Anfang. So lange, bis man an ihn glauben kann.

aus Wörtern ein Zuhause bauen.

Vor deinem Tod habe ich Jahre damit zugebracht, aufs Sterben zu warten. Nacht für Nacht hörte ich meinem Herzrasen zu, die Augen angstweit geöffnet, der Blick im abstrakten Dunkel des Zimmers verloren gegangen. Das Sterben und ich, das war ein privater Krieg, ein Kampf, den ich jede Nacht aufs Neue ausfocht und aus dem ich mit tiefen Augenringen erwachte. Ein Sisyphuskampf und damit: erwartbar. Das immerhin ist das Gute an einem bunten Strauß Neurosen: Sobald das Adrenalin aufgebraucht ist, glaubt man allen Ernstes, Kontrolle zu haben.

Und jetzt? Jetzt greift mir jede Todesanzeige direkt in den Magen. Jedes Blatt vom letzten Herbst sieht mir wie ein Vorbote aus; das tote Vogeljunge im Hinterhof betrauere ich wie einen Freund. Jetzt erst erkenne ich, dass ich nicht allein auf diesem Schlachtfeld stehe. Dass links und rechts von mir Menschen fallen, ja, niedergemäht werden. Der Feind bleibt unsichtbar, auch nach Tausenden von Jahren.

Seit du fort bist, habe ich begriffen, dass jeder Tag eine einzige Unwahrscheinlichkeit ist. Dass wir uns jeden Tag gegen die Statistik stemmen. Das kann nicht gutgehen; erst recht kein ganzes Leben lang.

Angst vor dem Sterben hat nur der, der noch nicht alles gesagt hat. Das Einzige, was jetzt noch zählt, was jetzt mehr als je zuvor zählt, ist das Schreiben. Die Angst mit jedem Kapitel außer Kraft setzen. Aus Wörtern ein Zuhause bauen. Ich will zurück in die Welt finden, in der es dich gab. In der du von mir nicht nur das wusstest, was ich mit dir war, sondern alles, was ich sein könnte. Und ich will, ich muss die Welt entdecken, in der ich zu ertragen gelernt habe, dass es dich nicht mehr gibt.