drama?

Ze Zurrealism Itzelf


„Unterstell doch den Normalen nicht dauernd, dass sie alles besser wüssten als du“, sagt Sören, schwingt seine Füße auf den gefakten Eames in meiner Küche, kratzt sich den bemützten Kopf, „und dass sie immer nur großartige Erfahrungen gemacht hätten.“ Er hat Recht: Ich stelle mir Reisen ohne Sonnenbrand und Autopannen vor, Studienabschlüsse ohne Mühe, Beziehungen ohne Knacks und Herzkater. Vielleicht gibt es die Normalen ja gar nicht, mit ihren beruhigenden Frisuren und volljährigen Sätzen. Vielleicht sitzt mir nur die Verspätung im Nacken, mit der ich ins Konzept Realität gefunden habe, das Zuwenig von Begegnung, Erfahrung, das Zuwenig an Mut, das Zuwenig von allem. Smalltalk treibt mir den Schweiß auf die Stirn, weil Smalltalk mich binnen Minuten enttarnen kann. Wohin ging deine letzte Reise? Welcher Club ist dein liebster? Welche Bar? Die Jahre, in denen der Gang zum Supermarkt meine Fernreise war, sitzen mir im Nacken; die Jahre, in denen ich nur schreiben, aber nicht sprechen konnte, im Blau des Bildschirms verloren, auf dem Boden eine kohlensäurearme PET-Installation; die Jahre, in denen ich aus der Welt gefallen war und nicht wusste, ob ich je zurückfinden würde. Ich lernte zu essen, unter zuckenden Lichtern zu tanzen, mit noch müdem Körper und zitternden Händen, ich lernte, zu verreisen und Gott nicht mehr ernst zu nehmen. (Und trotzdem.)

Hi. Manchmal möchte ich in einer neuen Sprache aufwachen, in der wie in der Mathematik jedes Wort und jeder Satz nur eine Bedeutung hat.

Hi. Lächeln steht mir nicht. Meistens gehöre ich nicht zu denen, mit denen es leicht geht (egal, was). Meine Schwere markiert eine Grenze, zum Beispiel die zwischen dir und mir. Meine Schwere ist Sprache, die Entwurf bleiben muss. (Aber wenn ich im Leben sonst nichts im Griff habe, dann doch wenigstens die Metaebene.)

Hi. Ich will kein Wir, das sich aus Umständen herausfischen und zusammenklauben lässt. Ich will Sätze, die Leben retten. Ich will wissen, was dich trösten kann und welche Wunde es wert war. Was du glauben kannst und ob du Gott vermisst. Ob es dir steht, zu lächeln. Welches Lied du wärst, welches Buch und welches Wetter (eine Klimazone wäre auch ok). Was der größte Irrtum anderer über dich ist und was du tust, damit er bestehen bleibt. An welche Orte du dich wünschst und wer du dort sein wirst. Ich will mit dir Herbststurm sein und Frühlingsregen. Ich will nackt neben dir auf dem Fensterbrett sitzen, Tee trinken und über den Sinn des Redens leben. Ich will mit dir im Bett durch den Morgen wandern. Kissenpflicht und Kür, Hürdenlauf über Hüften und Münder, Langstreckenküssen, Kämpfen in Keks-Klasse. Meinst du, das wäre möglich?

fuel to fire

Nachts auf dem Tempelhofer Feld: Das war Dunkelheit, die ihren Namen verdiente. Das winzige Lichtrund deiner Zigarette rettete niemanden. Im Tageslicht waren deine Worte noch weich und Weg gewesen, wir hatten rücklings auf deinem Bett gelegen, das Kinn in den Nacken gelegt, Blickrichtung Wolken; nachts brach der Weg plötzlich ab, genau dann, als ich mich unwiderruflich in dir verlaufen hatte. Der Wind brüllte, weil er kein Laub zusammenkehren konnte; trotzdem hörte ich über all den Lärm hinweg ein Knacken, als du etwas sagtest, das schwerer wog als Abschied; ich hörte es knacken, aber es konnte ja nicht dieses abgeschmackte Herz sein, es war also ein Gelenk, ein Vogelnacken, ein Himmel, der brach.

Es gibt Menschen, für die immer am schwersten wiegt, was der andere nicht ist. Mal war ich zu wenig leicht, mal zu wenig kompliziert, in jedem Fall aber zu wenig schön für, so sagt man wohl: jemanden wie dich. „Wie soll man Anziehung beschreiben“, sagtest du, deine schmalen Finger gestikulierten durch die Dunkelheit und ich dachte, „du beschreibst es doch gut: Schönheit ist, wo ich nicht bin.“ Schönheit war ein Ort, an dem du nie allein gewesen warst, an dem immer jemand neben dir hergegangen war, jemand, den du vielleicht noch nicht kanntest, von dem du aber sicher wusstest, dass ich es nicht war.

„Wenn du heute Nacht sterben müsstest“, sagt M. gegen kurz vor zwei, ich auf dem Küchenfußboden sitzend, an die erkaltete Heizung gelehnt, er einen Kontinent weiter mit seiner Bettdecke raschelnd, „welches Ungesagte würdest du am ehesten bereuen?“ Gesichter ziehen an mir vorbei, Menschen, die mich im Dunkel besuchten und mit hinausnehmen wollten, Hände, die ich aus meinen rutschen ließ, verständnislose Blicke, vor denen ich die Augen verschloss und in die Finsternis zurückkehrte. Und doch legte jede dieser Begegnungen etwas offen, wurde Riss, wurde Lichtstreifen, bereitete mich vor auf den Tag, an dem ich endlich hinaustreten würde aus dem stickigen Raum, den ich zu meiner Welt erklärt hatte.

Ich denke an A., die mir beigebracht hat, nicht mit der Schlaflosigkeit zu hadern, sondern das Dunkel zu durchwandern, mit einem warmen Mantel, mit Agnes Obel im Ohr, mit dem Lichtsmog über allem, mit den vereinzelten hellen Fenstern, hinter denen es Menschen gibt, denen man nichts erklären müsste. Ich denke an G., die mich jeden Tag zwei Mal im Krankenhaus besuchte, die mir wie einem Kind zuredete, um die bunten, kinderfingerdicken Tabletten erträglich zu machen; an R., von dem ich gelernt habe, dass jeder, der helfen will, verletzt worden ist. „Die Verletzten erkennen einander“, sagte er, und ich nickte, denn ich hatte ihn, diesen groß gewachsenen Psychologen mit seinem gütigen, pockennarbigen Gesicht, von Anfang an erkannt. Ich denke an T., an seine besorgten Fragen, an N., der mich mit seinen Geschichten hinausnahm, in die Berge, in den Regen, den Wind, bis ich stark genug war, um es auf meinen eigenen ersten Berg zu schaffen. Und wie stolz N. war, wie sehr er bei mir war, in meiner Freude über die Farben, die Weite, die Sicherheit des unbefestigten Pfads. Jede Begegnung richtete das Unmögliche an: Sie holte mich nicht zurück, denn ich hatte nicht gelebt; sie holte mich in eine neue, fremde Geschichte.

Genau das machte es so schwer, von dir Abschied zu nehmen: Die Worte waren nie behäbig zwischen uns zu Boden gesunken; sie hatten miteinander zu tanzen gewusst. „Ich kann dich lesen“, sagtest du erstaunt nach unserer ersten Begegnung, ungläubig angesichts der Geschichte, die zwischen uns zu wachsen begonnen hatte: Zunächst sorgsam behütet, bis sie dir plötzlich zu groß wurde, zu unkontrolliert, Farben kurz vor Verfall.

Wenn jemand stirbt, sieht man plötzlich klar, sieht scharf gestochen alles, was sich zuvor im Unterholz des Alltags verborgen hat. Jede Verwandtschaft, die nur auf dem Papier besteht, jede Freundschaft, die ihren Namen zu Recht trägt. Jeden heimlich gehegten Groll, jede Nachlässigkeit, jede uneingestandene Liebe, jede aufgeschobene Entscheidung.

Erst seit du fort bist, habe ich wirklich begriffen, wie gut du mich gekannt hast. Wie viel du von mir verstanden hast, vor allem das, was ich verschwiegen habe. Du hast mich mit allem gesehen, was ich so dringend verbergen wollte, du hast mir still und beharrlich bewiesen, dass genau das, dass genau diese Dunkelheit zu mir gehört, dass man sie lieben kann, weil Narben vor allem eins bedeuten: dass man gewonnen hat. Dass man überlebt hat, trotz und wegen allem. Du hast mich sichtbar gemacht, hast mir einen Platz in der Welt zugewiesen, ganz selbstverständlich, so wie du selbstverständlich warst, in deiner klugen Verwegenheit, deiner spitzbübischen Eleganz. Wie viel besser wäre ich gewesen, hätte ich dich ein Leben lang gekannt.

An schlechten Tagen ist alles klein neben der übergroßen Tatsache, dass du fort bist. An guten Tagen ist alles klein neben der Tatsache, dass ich es dich gab.

Unterholz

Es hört ja nicht auf mit dem Sterben. Gehen wir zu Bett, stapeln sich Tote auf unseren Decken, schmiegen sich neben uns aufs Kissen. Sie bereiten den Boden, auf dem wir uns bewegen, ihre schlecht überstrichenen Hände und Arme sind Waschbecken. Handtuchhalter. Schuhlöffel. Diese Wohnung, dieses Haus ist so voll gestopft mit dem Wissen um deinen Tod, dass kaum noch Luft für mich bleibt. Dort draußen fällt alle paar Sekunden einer, mindestens, aber die anderen flöten „Das Leben muss weitergehen“ und „Das hätte er so gewollt“ und trampeln über seinen Körper, um eine Fernsehzeitschrift zu kaufen. Ein kühles Getränk. Der Tote ist zu schwach, um zu widersprechen, um die, die über ihn trampeln, am Bein, am Schuh zu packen, sein Schatten ruckt nur noch kurz, um seiner Pflicht zu genügen, diese Zeit ist nicht mehr seine, die Gegenwart gehört ihm nicht mehr, er kommt jetzt aus einer anderen Ära, und keine andere wird sich ihm öffnen. Er kann sich nicht ausweisen: Sein Name ist von ihm abgefallen und blutet auf dem Boden nach und nach seine Bedeutung aus. Wir glauben, dass wir die Trauer überstehen werden wie eine Grippe. Wir glauben, dass wir die Toten vergessen werden, die uns heiß und schwer in den Nacken atmen, in die Nase, die Mundhöhle hinein. Die Toten, die mit donnernden Schritten über den Nachthimmel ziehen, die ihr stummes Licht am Morgen über die Welt werfen, die zischend ins Lied des Wasserkessels einstimmen und heiser in das des Ventilators. Die den Handstaubsauger einschalten, das Gaspedal durchtreten, die Kupplung blockieren, das Herz eine Schrecksekunde lang zu laut, zu schwer schlagen lassen. Der Tote ist zu der Art von Bleiben verurteilt, in der man verschwinden muss. Er ist zum Zuhören verurteilt, wenn die Lebenden ihm Eigenschaften andichten, die er nie besessen hat. Er schrumpft zu einem einzigen Augenblick, an dem jeder herumdeuteln kann. Ihn auf seine halbherzigen Erinnerungen zuschneiden kann. Zur Beerdigung fallen wir noch einmal ein Stück zurück, berühren noch einmal, beinah, seine Hand, um dann wieder ins Helle abzukippen, über die eigenen Schmerzen, die eigenen Möglichkeiten zu grübeln, über eine Zukunft, die wichtiger sein muss als der Tote, weil es sie gibt.