Unterholz

Es hört ja nicht auf mit dem Sterben. Gehen wir zu Bett, stapeln sich Tote auf unseren Decken, schmiegen sich neben uns aufs Kissen. Sie bereiten den Boden, auf dem wir uns bewegen, ihre schlecht überstrichenen Hände und Arme sind Waschbecken. Handtuchhalter. Schuhlöffel. Diese Wohnung, dieses Haus ist so voll gestopft mit dem Wissen um deinen Tod, dass kaum noch Luft für mich bleibt. Dort draußen fällt alle paar Sekunden einer, mindestens, aber die anderen flöten „Das Leben muss weitergehen“ und „Das hätte er so gewollt“ und trampeln über seinen Körper, um eine Fernsehzeitschrift zu kaufen. Ein kühles Getränk. Der Tote ist zu schwach, um zu widersprechen, um die, die über ihn trampeln, am Bein, am Schuh zu packen, sein Schatten ruckt nur noch kurz, um seiner Pflicht zu genügen, diese Zeit ist nicht mehr seine, die Gegenwart gehört ihm nicht mehr, er kommt jetzt aus einer anderen Ära, und keine andere wird sich ihm öffnen. Er kann sich nicht ausweisen: Sein Name ist von ihm abgefallen und blutet auf dem Boden nach und nach seine Bedeutung aus. Wir glauben, dass wir die Trauer überstehen werden wie eine Grippe. Wir glauben, dass wir die Toten vergessen werden, die uns heiß und schwer in den Nacken atmen, in die Nase, die Mundhöhle hinein. Die Toten, die mit donnernden Schritten über den Nachthimmel ziehen, die ihr stummes Licht am Morgen über die Welt werfen, die zischend ins Lied des Wasserkessels einstimmen und heiser in das des Ventilators. Die den Handstaubsauger einschalten, das Gaspedal durchtreten, die Kupplung blockieren, das Herz eine Schrecksekunde lang zu laut, zu schwer schlagen lassen. Der Tote ist zu der Art von Bleiben verurteilt, in der man verschwinden muss. Er ist zum Zuhören verurteilt, wenn die Lebenden ihm Eigenschaften andichten, die er nie besessen hat. Er schrumpft zu einem einzigen Augenblick, an dem jeder herumdeuteln kann. Ihn auf seine halbherzigen Erinnerungen zuschneiden kann. Zur Beerdigung fallen wir noch einmal ein Stück zurück, berühren noch einmal, beinah, seine Hand, um dann wieder ins Helle abzukippen, über die eigenen Schmerzen, die eigenen Möglichkeiten zu grübeln, über eine Zukunft, die wichtiger sein muss als der Tote, weil es sie gibt.