Ich erinnere dich in Schnappschüssen. Ich liege im Krankenhaus, draußen ist Sommer, drinnen wird die Luft eng, drinnen atmen die, von denen die draußen nichts wissen wollen. Drinnen erreichen mich deine Briefe, deine fein geschwungene Schrift.
Du schreibst, dass das Licht nach den dunklen Jahren unfassbar sein wird. Dass ich die Zeit nutzen soll, in der ich Beobachterin bin, von außen auf das schaue, was „gesund“ genannt wird, oder „Alltag“. Dass ich nicht leiden soll an dem, was ich für Schwäche halte. Ich glaube dir nicht, und ich tue dir unrecht. Denn es ist alles wahr. Ich werde jeden Tag über das Blutrot eines Sonnenuntergangs staunen, über die Weite des Himmels, über Blumenfarben am Straßenrand, ich werde mit dem Wind lachen, der mir das Haar zerzaust, und ich werde verstehen, dass ich in der Dunkelheit zum Schreiben gefunden habe.
Du hast die richtigen Fragen gestellt, von Anfang an, aber ich konnte nur wenige davon beantworten. Mir zerstob jeder Ausdruck, jede Metapher, die eben noch glatt auf meiner Zunge gelegen hatte. Ich konnte mich auf meine Worte nicht mehr verlassen. So sehr hast du mich aus der Fassung gebracht.
Du liebst die norwegische Sprache nicht ohne Grund, denke ich heute. Tief gesprochene, fast gesungene Worte, von klarer Struktur, zurückhaltend, aber liebevoll.
Ich würde gern all meine Briefe an dich neu schreiben. Würde rechtzeitig erkennen, wie viel Platz für Sorge in deinem Lächeln steckt. Ich habe dir nicht oft genug gesagt, dass du so viel mehr erreicht hast, als du glaubst. Weil du zu dir geworden bist. Du bist der schönste Mensch, den ich je gesehen habe. Und am schönsten warst du im Wort, in deinen Gedanken. Du wolltest ein Buch schreiben, und du wusstest, dass das Wichtigste die Widmung ist.
Du hast jemanden geliebt, eine Liebe, die Wundbrand war. Du warst so demütig angesichts dessen, was du verloren hast. Du trugst nicht schwer an deinem Schmerz, du trugst schwer an Ungeduld, am Warten auf den Tag ihrer Rückkehr. Für diese Frau hättest du alles hinter dir gelassen. Ich habe dir nicht gesagt, dass ich gern diese Frau gewesen wäre. Oder wie sehr ich mich in deine Angst vor Belanglosigkeiten verliebt habe. Oder dass du immer Teil von mir sein wirst. So ist das eben mit den Menschen, die im Dunkeln deine Hand nehmen. Wenn du nichts mehr sehen kannst, wirst du umso stärker fühlen.
Ich habe deine Stimme verloren, weißt du. Es ist zu lange her. Ich würde sie unter vielen nicht wieder erkennen. Aber ich wünsche mir, dass ich das nicht muss. Ich wünsche mir, dass wir uns eines Tages an irgendeinem Bahnhof gegenüberstehen, müde von der Fahrt und vom Vorfreuen, und dass ich dir sagen kann: Ich habe es damals nicht gewusst, aber du hast mir das Leben gerettet.
Und dann hast du es doch geschafft, auch, weil dir ein wichtiger Mensch die Karten geschenkt hast. Trotz aller Müdigkeit, aller Verlorenheit, trotz allem, was gerade durch dein Leben pocht.
Austra, die heute ihr neues Album herausgebracht haben. Austra, die in einem Raum spielen, der fast erstickt vor Menschen. Und du tanzt, weil du musst. Weil die Musik deinen Körper hoch hebt, du schaust dir von oben zu, wie es dich mitreißt in diesem gleißenden, zuckenden Licht, wie du untergehst zwischen den warmen, tanzenden Körpern um dich herum. Du schaust dir zu, als sie dein Lied spielen, als du stumm mitschreist, mit schon zittrigen Händen und deinem müden Körper, aber du wirst jetzt nicht aufgeben, nicht bei diesem Lied. Und du schreist deiner Angst ins Gesicht, du forderst sie heraus, und du gewinnst. Für diesen Moment. FEEL IT BREAK!
Wenn alles zusammen kommt. So heißt das doch. Wenn alles im Kopf zusammen kommt. Dieses Kaleidoskop aus Zweifeln und Angst. Erst dann passieren Dinge im Körper. Albumauskopplung Schmerz: Herz und Bauch reagieren auf das, was von oben kommt.
Wenn das Draußen mit seinen Erwartungen sich vor der eigenen Komfortzone aufbaut, vor der eigenen Schutzlosigkeit, und wenn dieses Draußen nicht bereit ist, von seinen Erwartungen abzurücken, was dann?
Verteidigst du deine Angst, deine Krankheit – oder dein Bedürfnis? Wo fängt Schutz an? Wie kann man seine Panik davon überzeugen, heute, nur heute, Urlaub zu machen? Irgendwohin zu fahren, wo es sonnig und still ist, wo sich das Gute ertragen lässt, dieses Glück, das sich immer noch zu oft falsch anfühlt?
Irgendwohin, wo es jemanden gibt, der dich daran erinnert, dass du mehr als gut genug bist für diese Welt. Dass du vielleicht niemals zu 100 Prozent funktionieren wirst wie die anderen. Dass du ihre Regeln vielleicht niemals ganz kapieren wirst. Und dass du das auch nicht musst.
Manchmal stelle ich mir vor, dass mein Nachthemd unter deinem Kissen liegen geblieben ist. Dass das Bett immer weiter nach mir duftet. Dass du mir wenigstens im Schlaf nicht entkommen kannst.
Manchmal rächt es sich, das Leben, wie ich es führe. Manchmal rächt es sich, aber ich zahle nicht in Falten und Augenringen. Immer vom Schlimmsten ausgehen, das ist am einfachsten und am schwersten zugleich. Immer vom Schlimmsten ausgehen, mehrere Notaufnahmen lang, drei Mal Krebs, zwei Mal Herzinsuffizienz, ein Mal Kammerflimmern, ein Mal Lungenembolie: Diagnosen, die in den Raum gestellt und wieder zurückgenommen wurden und trotzdem etwas in mir hinterließen: das Gefühl, endgültig schutzlos zu sein.
In der Notaufnahme arbeitet die Zeit gegen alle: gegen die Wartenden, gegen die Schwestern mit ihren Schneehauben und kühlen Gesichtern. Unter ihren Kitteln vielleicht ein Strauß Farben, nach außen hin aber sind sie optimal an die Umgebung angepasst; nur an roten Wangen und Mündern lässt sich ausmachen, dass da ein Mensch vor weißen Wänden läuft.
Es braucht lange, sich durchzuringen, sich für krank genug zu erklären, um eine Notaufnahme zu rechtfertigen. Es braucht die Unfähigkeit, zu stehen, zu atmen, es braucht die Reduktion auf eine Dimension: auf eine Handvoll Wörter, die mit Schmerz zu tun haben. Krankheit ist eine schalldichte Kategorie, die sich im Warten zementiert. Wer lang genug wartet, will nicht mehr bei den Gesunden mitspielen. Wer lang genug wartet, will nur noch von einer Station zur nächsten wandern, Diagnosen einsammeln und Heilsversprechen, an die weder der Arzt noch man selbst glauben kann - aber unter alldem läge ein implizites Versprechen, ein Versprechen von Aufgehobensein. Man wäre darin aufgehoben, Legionen von Röntgenblicken durch sich hindurch marschieren zu lassen. Jeden atmenden, pulsierenden Fetzen könnte man aufheben, beäugen und wieder fallen lassen. Ein Körper ließe sich im Sturm erobern.
Wer zu lange wartet, dem wird der Körper zum Feind, zur Lebendfalle; der Kopf voller Schmauchspuren, Schmauchspuren jedes unausgesprochenen Anfangs, jeder Stille hinter einem Versprechen.
Wer zu lange wartet, vergisst, sich dankbar zu sein für alles, was man schon ertragen hat.
Zuletzt war es immer so, dass ich nicht nichts hatte. Die großen Worte aber schepperten an mir vorbei: Es reichte für Floskeln, für Worte, die so abstrakt waren, dass sie es mit der Unendlichkeit aufnehmen konnten. Es reichte für einen müden Taxiruf im Morgengrauen; die Häuser im Regen draußen wie abgeschminkt, der Wind fuhr kalt durch mein feuchtes Gesicht und ich dachte: wenn jemand all das hier musikalisch begleiten würde, er würde jetzt aufhören zu spielen.
Ein Krankenhaus ist ein Ort, an dem wir uns aufspalten, zwei Namen tragen: einen gesunden und einen kranken. Mit etwas Glück wartet am Ausgang jemand, der den richtigen kennt.
heute bei Ocelot
Im Spiegel bin ich noch Mädchen, im Spiegel ist noch Zeit, bis es ans Zugreifen, ans Zupacken geht. Bis Füße nicht mehr stolpern, bis Augen nicht mehr suchend auf dem Boden, auf Haut tasten dürfen.
Älter werden ist eine ruckartige Bewegung; eines Morgens kräuseln sich Ahnungen auf der Stirn, auf den Oberschenkeln. Eines Morgens gähnt es sich beharrlicher, tiefer, und das, obwohl ich mich in all den durchwachten Nächten nicht am Lachen verschluckt habe. Wach sein, das hat nichts mit Tanzen zu tun, der Strobo in Mitte reicht nicht bis in mein Zimmer; hier gab es nur das Wissen, die Ahnung, die Hoffnung, dass noch Zeit wäre. Dass ich es mir leisten könnte, die Welt vor den Fenstern vorbei ziehen zu lassen.
Die Haare vom Kissen dicht ans Kinn gedrückt: liegen und den Worten zuschauen, wie sie sich formen im Kopf. Liegen im Wissen, dass ich irgendjemanden noch wecken kann, einen der schmal geschnittenen Jungen, die daran glauben, dass man mich retten könnte oder müsste. Emotionspingpong durch Glasfaserkabel: ein fremdes Lächeln ist immer am schönsten, am sichersten.
Vielleicht hat es mit dem älter werden zu tun, dass man kaum jemanden noch wecken darf. Der Bedarf an Illusionen sinkt; heute träumt man von Alltag. Die Guten, sagte Großmutter, die Guten sind immer zuerst weg, übrig bleibt Ausschuss. Übrig blieb ich; übrig blieben fremde Herzen, in die ich zur Zwischenmiete einzog, ein paar Wochen und Telefonstimmen lang. Das unretuschierte Gesicht bei Skype: ein Cliffhanger für zwei. Danach fängt man an, die Sätze des anderen abzugleichen mit dem, was man eigentlich will. Danach fragt man sich, ob die Stille am anderen Ende der Leitung wirklich Lächeln ist.
Manchmal sucht man sich ein Nest im fremden Bett, flüstert einander Fabeln vom Gelingen ins Ohr. Manchmal nimmt man eine Pause vom Alltag, bis die Münder sich ampelrot färben. Bis sich Unausgesprochenes zwischen uns sammelt; in unseren Köpfen ist von Enttäuschung die Rede. Das Lächeln schmilzt weg, weil wir einander nicht erkannt haben, obwohl man uns hätte ausdrucken können, seiten- und bücherlang sind wir uns einig gewesen. Sehnsucht muss nicht übersetzt werden: im bedürftig sein verstanden wir uns.
Später dünnen die Nachrichten aus, magern ab bis zum Schweigen; später ist auch das Nichtschwimmerbecken Internet eines, in dem man untergehen kann.
Betrunken sein, das geht auch mit müden Augen und zu viel Zucker im Blut. Betrunken sein unter schubsenden, singenden Anderen. Es ist nicht so, dass ich das nicht versuche mit dem normal sein. Alle paar Jahre gibt es jemanden, der mich nach draußen zerrt, der mich daran erinnert, dass Nächte mehr zu bieten haben als verwachte Stunden. Als Musik und Bücherstapel und Sehnsucht ohne Ort.
Es ist ja nicht so, dass ich nicht nippe und kaue und schlucke. Dass ich nicht küsse und frage und antworte. Es ist ja nicht so, dass ich nicht lächle, wenn das richtige Lied mich anfällt. Wenn es endlich draußen und nicht nur im Kopf zu laut wird.
Es ist nur so, dass das, was ich tue, bloß Imitation ist. Im Brustraum pochen Leerstellen, mein Puls telegrafiert Nachrichten, die ungehört bleiben. Sobald ich versuche, eine Geschichte zu erzählen, stellt sie ihre eigenen Regeln auf. Drinnen, in meinem Raum, meiner Komfortzone, bilde ich mir Berührung in der Sprache ein, Verstandensein. Draußen verstehe ich, dass es nur Aufprall geben kann. Erschütterungen.
Herzausgabe bei -> Ocelot
Schreiben, um nicht zu vergessen, das funktioniert nicht, sagt er, weil keiner ehrlich ist, wenn er sich erinnert. Gestern gibt es ein paar Sätze lang Ruhe, weil dich keiner böse überraschen kann. Weil du behaupten und glauben kannst, dass der andere angefangen habe mit der Theorieanwendung Fortgehen. Dass niemals du eine Tür zugeschoben hättest, dass niemals du prophylaktisch kaputt gemacht hättest, was gerade angefangen hatte, zu wachsen. Egal, welchen Namen du der Vergangenheit gibst, sie setzt sich nicht zur Wehr.
Gestern gibt es ein paar Sätze lang Ruhe, aber dann eroberst du mit dem rechten Fuß die Bettdecke zurück, weil du im Halbschlaf vergisst, dass es niemanden gibt, mit dem du um sie kämpfen musst. Gestern lächelst du nicht beim Aufwachen, gestern ist dein Gesicht schweißlackiert vor sauber ausgeführter Angst. Gestern gibt es Spiegel nur, um dir beim Alleinsein zuzusehen.
Gestern macht nicht immun, nicht mal gegen dich selbst. Gestern kann dir keiner mehr etwas wegnehmen, aber du nimmst dir alles, was du für heute brauchen könntest. Schreiben, um nicht zu vergessen, das funktioniert nicht, weil es dann keine neuen Erinnerungen gibt.
Mein Vater war von der Klinik überzeugt, kaum dass wir die Eingangshalle betreten hatten - ihm stach nämlich das kostenlos zugängliche Schuhputzgerät ins Auge. Mich persönlich sprach zum Einen die schnieke Blondine hinter der Rezeption an, zum Anderen (und vor Allem) das stylische Internet-Terminal mit den Weltzeituhren darüber - Berlin, Tokio, New York. (Dabei waren wir doch in der norddeutschen Provinz!)
Mein Zimmer war eigentlich für Privatpatienten vorgesehen und dementsprechend à la Hotel aufgemacht, von der Sitzecke mit Polsterstühlen, eigener Dusche und WC (Hinfort mit den psychiatrischen Zeiten! Viererzimmer? Gemeinschaftsbad? Weichet von mir!) bis zu den niedlichen Schokoladentäfelchen auf dem Kopfkissen; abends gab es mehr als eine Sorte Brot und die Mitpatienten konnten in ganzen Sätzen sprechen.
Anfangs regte ich mich über die wehleidigen Vierzehnjährigen auf, die behaupteten, seit ihrer Kindheit keine Entspannung mehr zu kennen. Über Lara, die ihr Schnarchen während der Imaginationsübungen beharrlich als Trance bezeichnete und behauptete, der Stift, den sie mir geklaut hatte, gehöre eigentlich ihr. (“Aber da ist doch mein Name eingraviert!” - “Ja UND?!”) Über die Krankenschwestern, die behaupteten, meine dunklen Augenränder hätte ich mir aus Geltungssucht nur aufgemalt. Über Doktor Birk, der Selbsthilfebücher schrieb und uns der Verkaufszahlen zuliebe einreden wollte, dass er einer von uns wäre. Er erzählte, dass während seiner Urlaube oft die Aussicht aufs Meer getrübt sei, weil die Fenster vom Salzwasserwind verschmutzt würden, und er deshalb immer ein Fläschchen Essigreiniger dabei habe, so wie die Seele ab und zu ein bisschen Essigreiniger bräuchte, um das Schöne wieder ungetrübt sehen zu können. Die besten Strategien gegen alles seien Dankbarkeit (etwa die Dankbarkeit, Birks Bücher nicht gekauft zu haben), und Entspannungsübungen, in jeder Situation (vielleicht auch bei Waldbränden).
Aber ich hatte noch nicht Synke kennen gelernt, eine muntere Adipöse, die mir ganz entspannt erklärte, dass der Amoklauf von Winnenden sie kein Stück mitgenommen habe, denn das sei schlecht vorbereitete und stümperhaft ausgeführte Arbeit gewesen. Sie selbst könne niemals Amok laufen, fügte sie hinzu - sie sei einfach zu perfektionistisch. Synke arbeitete in der Pathologie und wollte mir auch gleich ein paar hübsche Anekdötchen erzählen, etwa, warum ein menschliches Auge so schwer zu zerschneiden ist. Synke gehörte auch zur Zunft der Nachwuchsschriftsteller - die Lektüre ihrer jüngsten Kurzgeschichte, in der eine Frau zersäbelt und später als Hackfleisch verkauft wird, vermied ich meinem Magen zuliebe. Ihr Kommentar zu meiner LiebeundKummerprosa: “Du bist schon ziemlich destruktiv drauf, oder?”
Hier läuft es auf Schummrigkeit hinaus und darauf, dass alle da sind. Es läuft darauf hinaus, zu rauchen. Es läuft darauf hinaus, dass alle viele Gedanken und Gefühle haben. Es läuft auf Applaus hinaus und dass ich nicht dabei sein will. Während die Jury offenbart, wer dieses Jahr für wertvoll befunden wurde, will ich Absperrband um meinen Körper wickeln. Das hier ist zu viel, zu laut; das hier steht mir bis zum Hals.
Es ist ja nicht so, dass niemand auf den Straßen wäre, da gibt es die gut Bemützten, die alternden Paare und Eltern, mit rastlosen Gesichtern, erschöpft vom Geschenkrausch, die entlang der dunklen Eingänge taumeln. Jetzt ist alles dicht, alles zu, letzte Glühweinbecher stehen verwaist auf den Tischen des Weihnachtsmarkts, der jetzt Geisterstadt ist; die Krippenfiguren lehnen nach vorn, als wollten sie fallen, mitten aufs regennasse Pflaster. Von oben blinken Lichter, Schneemanngerippe am Ku’damm, mit leeren Warenkörben. Wirklich trostlos wird es erst, wenn man nichts mehr besorgen, sich nicht mehr ablenken kann. Blinkende Schneemänner, LED-Tropfen an den Bäumen, keine einzige ausgefallene Birne in den Lichterketten, alles funktioniert, alles hält sich aufrecht, falls doch noch jemand darauf schaut, falls einer nachprüft, ob auch nach Ladenschluss Haltung bewahrt wird.
Vor der Restwärme der Läden kauern die Betüteten, fleckige Plastiktüten voller Hab und Gut, fast schon obligatorische Krücken, die Erinnerung an Amputation. Graue Gesichter, Fledermausaugen, die sich nicht aufhellen bei den mageren Eurostücken, die in ihre Kaffeebecher fallen. Sie ernten die Gehetzten ab, die Gehetzten, die Löwenköpfen in Restaurants zustreben, ihren Reservierungen, den 75 % auf Pelz nachspüren, den weihnachtsreduzierten Hundejäckchen. Sie ernten, aber es hat keine Bedeutung, für keinen von ihnen.
Es ist zu warm, zu warm für diesen Tag, aber mir bleibt kalt unter drei Kleiderschichten. Mit jeder verstreichenden Viertelstunde wird das Licht gedimmt, herunter gedreht, jetzt ist offiziell deklarierte Familienzeit, wer jetzt noch draußen ist, ist Verlorener, und für Verlorene gibt es keine Lichtspiele, keinen Lamettasturm, hier gibt es nichts zu sehen: bitte gehen Sie weiter.
Der Größe der Wohnung nach zu urteilen, muss sie noch sehr jung sein. Die schlecht tapezierten Wände gehen auf dich; die Fenster ein Querverweis: eine gemischte Tüte Wetter. Du steigst blinzelnd aus dem Schlaf und ich weiß nicht, ob das Freude bedeutet oder ob du nicht glauben willst, dass ich noch hier bin.
Wir kennen uns, sage ich leise, wir kennen uns vom letzten wachen Atemzug gestern Nacht. Deine Augen traumschmal: du sagst guten Morgen, ohne zu lächeln. Der Tag ist schon voraus gegangen; deine Haare stehen so trocken vom Kopf ab, als wären sie lang nicht mehr gegossen worden.
Die Füße wie Koffer vom Bett schwingen; auf dem Boden die erste Tasse Frost. Ein romantisches Wort wäre immerhin vorstellbar, ich denk es mir in deinen Mund, in dein grobkörniges Gesicht. Zu Weihnachten könnten wir uns Emotionsprothesen schenken. Wenn es uns dann noch gibt. Vorerst frühstücken wir, auf der Suche nach einem Vorwortgefühl; ich steche der Butter als erster ins Herz. Unberührt: die Kartografie von Erdbeeren, pockennarbiges Rot und Puderzuckerdünung. Auf deinem Teller formiert sich ein Heer aus Krümeln; manchmal denke ich: ich muss immer etwas wegschieben, selbst wenn es nur Kaffeetassen sind.
Egal, mit wem, man ist niemals mit allem versorgt; wenn das Elend von draußen fehlt, kommt eben eins von innen nach. Das verschwindet nicht einfach, die Überzeugung, dass nichts wirklich gut werden kann; vielleicht gibt es Stellen am Körper, die zu berühren bedeutet, entzwei zu gehen.
Du drehst die Musik auf; von unten pocht eine, die noch mit Türspion und Filztischtüchern lebt, mit Sonntagstorte als Weltordnung; wir polieren statt Geschirr nur unsere Wünsche nach, sie schimmern im Slalom auf deinem Gesicht, und all das hilft nur marginal gegen Wahrscheinlichkeiten.
Ich schlafe im Gehen ein Stück; es ist, als wäre um mich herum Berlin untergegangen, die Autodächer in Blättern ertränkt, jeder Gedanke in Goldlaub erstickt. Vielleicht bin ich von einem zum nächsten Schatten gereist, auf der Suche nach einem Zweitort, Fluchtort, und hatte ich einen gefunden, blieb er ungenutzt. Damit ich daran glauben konnte, aufgehoben zu sein.
Vielleicht war ich Milchschaummensch, bleich und süß und immer kurz vorm Verschwinden. Ein Umriss, pathologisches Vokabular, ein Leben in Herzsätzen, auserzählter Verzweiflung. Das Schicksal zwingt dich nicht, tapfer zu sein, das musst du immer noch selbst schaffen. Dem Krieg in dir nicht den Krieg erklären, sondern alles mitnehmen, alles, was du bist, in der Tasche geschultert, weil es ohnehin immer bei dir sein wird. Wenn du beginnst, deine Angst anzuerkennen, wird sie eines Tages ihren Hut nehmen. Weil ihr genug voneinander gelernt habt.
Ich mochte das, Steppenwolf sein, die notorisch Unverstandene, ich mochte das, im Schreiben die Welt nachzuzeichnen, die in mir auf Grund gelaufen war. Ich wollte diese Müdigkeit nicht, die von außen kommt, von schlecht riechenden, schlecht gelaunten Menschen, von überstündigen Tagen. Ich wollte nur meine Müdigkeit, die von innen aufsteigt; ich war mir Feind genug. Ich reichte völlig aus, damit es mir schlecht ging.
Wer ernstlich krank ist, lernt, zu simulieren, am Bildrand zu bleiben; es wird immer jemanden geben, der glaubt, dass hier Rettung vonnöten wäre. Detailermittlung im Herz: den Drang niederringen, dich anzurufen. Ich würde sagen, es geht nicht ohne dich, und du würdest verstehen, so, wie du immer verstanden hast. Ich würde den Preis dafür bezahlen, von dir gefunden worden zu sein. Wir würden uns in Geborgenheit sprechen, Gefühlsgang rückwärts, aber das wäre nicht jetzt, denn jetzt ist es, als würde ich dich nicht mehr kennen.
Mit noch verschlafenen Augen an den Ort fahren, wo wir uns zuletzt begegnet sind. Als wäre etwas eingefroren, als würdest du noch immer dort am Bahnsteig stehen, mit diesem verunsicherten Lächeln. Als ob du mich nicht glauben könntest.
Zuletzt waren wir Sommer, jetzt gibt es gelbe Blätter und Kastanien; ich sitze neben Tabakresten und der letzten Weinflasche der Saison, den Blick auf Passanten gerichtet. Jeden, der suchend zwischen den Ausgängen pendelt, will ich mit deinem Namen ansprechen. Neuerdings brennen meine Augen beim Weinen, die Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit habe sich verändert, sagte der Arzt, und ich frage mich, was du sonst noch verändert hast.
Die Eisfrau hat Freizeit und telefoniert; die letzten Wespen prallen gegen ihr verwaistes Stück Kuchen. Auf den Touristenbooten stapeln sich Plastikstühle; die Enten tragen Herbstgrau und drehen ab, als sie erkennen, dass von mir nichts zu erwarten ist. Der Rasen wird für die kalten Tage kurz geschoren; kurz vor eiskalt stehe ich auf, schaue mich immer wieder um, bis die Bahn sich mit mir in Bewegung setzt. Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass jetzt die Zeit ohne dich beginnt; eine Zeit, die zeigen muss, wer wir füreinander wirklich waren. Und sind.
Ich steige aus der Bahn, dein Rücken verschwimmt, geht unter in der Menge und ich denke, es könnte alles auch ganz anders sein, eine neue Hand könnte nach meiner greifen und ich würde mit jemand anderem weiter gehen. Manchmal will ich in Bahnhöfen leben, an Orten, die es nicht wirklich gibt, wo all die kleinen Dinge nicht existieren, die Decken und Kissen, die Platten und Briefe, all die Dinge, die nur scheinbar Halt geben. Es bräuchte Bahnhöfe mit Schwimmbädern: die letzten Reste vom Ich abduschen und unter Wasser neue Regeln aufstellen.
Aber heute gibt es Berlin, gibt es Kurortstimmung in Friedrichshagen. Maßgeschneiderte Dinkelkuchen und Wollkostüme. Haustierreiki, Luftkristallfilter und mediale Vermittlung: Hier ist Raum für alle Überflüssigkeiten, selbst die Wespen wollen nur spielen. Wir tasten uns verschnörkelte Häuserfronten entlang, hier ist doch vor Allem Seewasser mit Möwen darauf, die ungerührt im weichen Wind schaukeln. Neben uns Berliner, die sogenannten richtigen, die auch kein anderes, besonderes Bier trinken. Auch die richtigen Berliner schauen auf den Müggelberg, als läge am anderen Ufer etwas Großes.
Trockenlegung der Blätter auf dem Boden, erste Kastanien wie aufgespießt daneben, ich lese in deinen Fußabdrücken, als wäre das unser erster Herbst. Die Enten starren, eine brotlose Kunst. Ich werfe meine Schuhe in die Luft; vielleicht ist mir der Himmel früher nicht aufgefallen, dieses überschäumende Weiß vor Blau, dieser Kugelflausch am Horizont, mit dem ich um die Wette rennen will. Aus dem Stand in die größtmögliche Geschwindigkeit: die Entfernung zwischen dir und mir kurzschließen. Ich könnte nichts mehr wollen, die Schmauchspuren der Flugzeuge würden nichts bedeuten als Elefanten im Steigflug, vertraute Unmöglichkeit. Das war vielleicht der letzte warme Tag, sagst du, der letzte warme Tag, ehe wir uns in einem Wort zusammen rollen, für den Winter.
Als ich hier anfing, sah ich aus wie ein Junge, bleich und langhaarig und an den falschen Stellen zu dünn. Ich stakste durchs Studentenwohnheim, behindertengerecht nannten sie das, dass der dunkle Flur sich ohne Treppen nach oben schraubt, eine Mischung aus Jugendherberge und Science-Fiction aus den Fünfzigern. Ich saß in der Uni und lernte, dass man nachmittags ruhig den ersten Sekt aufmachen kann und Luftgitarren ein ernst zu nehmendes Seminarthema darstellen. Das hier hätten doch Leute wie ich sein sollen, stille Stubenhocker, und dabei ging es mit dem Saufen, dem Lautsein erst los, ich saß mit Notizbuch und großen Augen in Kellern, auf Dachböden und in Seminarräumen; hätte es einen Panikknopf gegeben, ich hätte ihn nicht loslassen können. Dieses Herzrasen, als es anfing mit dem Texte vorlesen, den Kopf zwischen den Schultern nach unten geschraubt. Als es damit anfing, sich ernst zu nehmen für das, was man tut. Das Schreiben zum ersten Mal „Arbeit“ nennen.
In Hildesheim zu studieren, war, wie in Therapie zu sein. „Wie lange bist du schon hier?“ „Wie lange musst du noch?“ „Was macht dieser Text emotional mit dir?“ Manche waren vorher schon krank gewesen, manche wurden es erst, und an manchen schienst du abzuprallen: sie fläzten sich auf deinen Wiesen, stapften unverdrossen durch deinen Regen, mit ihren Hipsterjeans und Ballettschühchen, mit offenen Haaren und Hemden.
Deine Ureinwohner sind Alte, die aufs Sterben warten oder Teenager mit Zahnspangen, die sich prügeln wollen, dazwischen gibt es nichts, nichts als Studenten, die verzweifelt versuchen, sich nicht zugehörig zu fühlen und in irgendeinem Supermarkt frisches Gemüse zu finden. Alles hier schaut abgestanden aus, ich musste Kassiererinnen erklären, was Basilikum ist und hätte mich danach gern betrunken, ein weiteres Mal.
Ich litt an dir wie ein Hund und bekam Carepakete, von Freunden und Fremden, ich habe in meinem Wohnheimzimmer eindeutig zu viele Jungs geküsst und zu wenige Mädchen. Ich habe ein Menschenleben gerettet und das einer Ente nicht retten können, die deine Einheimischen umgebracht und gegrillt haben, Hildesheim, an deinem beschaulichen See, wo immer mal wieder ein Betrunkener untergeht; bescheidene Holzkreuze erzählen von René oder André, während nebenan Kopfsprünge geübt werden.
Wer die schlimmste Vorstellung von Provinz mit seinem Alter malnimmt, der weiß, wie es hier aussieht. Es läuft sich, es denkt sich wie durch Sirup durch deine Straßen und Tage und ich habe mich dafür gehasst, genau das zu brauchen, diese ins Minus gedrehte Geschwindigkeit. Ich brauchte diese drei Jahre, in denen ich lachen und weinen lernte, in denen ich aus dieser unsäglichen Taubheit klettern lernte, die mich ausgefranst hatte.
Du zwingst zur Nähe, Hildesheim, du zwingst zu ausgiebigsten Tee- und Bierstunden in WG-Küchen, weil deine Cafés, deine Clubs ihre Namen nicht verdienen. Aus Verbündeten gegen dich werden Freunde, man liegt sich hier rekordschnell in den Armen, jedes Stück Wärme wird geschluckt, damit es sich im Magen hält, auf dem Heimweg.
Hinter mir liegen drei Jahre voller guter, tiefer Gespräche, eine Tiefe, die ich in Berlin erst suchen muss, weil das hier nicht so leicht ist, in fremde Küchen zu dürfen, in den allernächsten Raum, weil man hier Mittel- und Knotenpunkte sucht, Zwischenorte, an Haltestellen gelegen.
Man wird dir nicht gerecht, Hildesheim, weil man sich an dir aufreibt, dich hassen muss und trotzdem an dir gesund wird. Und es braucht Berlin nicht, weil da alle hingehen und immer noch glauben, bei ihnen wäre das neu. Es braucht Berlin, weil ich ein Zuhause brauche, Hildesheim, und dafür taugst du einfach nicht. Ich lasse zentimeterweise Haar zurück, eine Handvoll Illusionen und die Gewissheit, dass du alles verändert hast.
Hab es gut, Hildesheim. Danke für alles.
Als hätten wir nie gelernt, miteinander zu sprechen, die Fremd-Worte zwischen uns fallen schwer von der Zunge, starren uns vom Boden aus an, verständnislos. (Vielleicht habe ich deinen Namen so oft ausgesprochen, dass er müde geworden ist.) Draußen, flügelschlagend: eine höhnische Spatzenkolonne, statt Musik der Beginn eines Erstickens, ich weiß nicht mehr, wie das geht mit dem Atmen, mit allem, mit uns. Da war doch mal Wärme, da war keine Stelle, an der es uns noch nicht gab. Unsere Freundschaft: ein Ort, wo wir nichts erklären mussten. Ein Heimatort, ein Ort gegen die Welt, und jetzt nur noch müder Trailer von gestern, grobkörnig aufgelöst.
Wir sind ökonomisch geworden, wir denken in Kategorien von Pflicht und Investition. Es gibt kein Ziel mehr, das alles aufwiegt, nur die Frage, welchen Preis wir zu zahlen bereit sind, für eine schrumpfende Handvoll gemeinsamer Nenner. (Da kommt etwas Neues, würde ein Muttermund sagen, und was, wenn das Neue, das sich auftut, nur Leere ist?) Ausatmen: Schlussmarkierung. Ich sag dir leise adieu, vielleicht hörst du es dann nicht, vielleicht höre ich es dann nicht, vielleicht ist es dann nicht wahr.
Unter meiner Bauchdecke strampeln Wörter in Milchkaffee; zu unserer Sprache zählt das Verpuppen in Büchern und Mägen. Hinter uns liegt die erste Nacht, wir haben uns abgewechselt mit dem Aufschrecken, alle ein, zwei Stunden, mit dem schlaftrunkenen Griff nach der Hand des anderen. Wir haben uns damit abgewechselt, nicht glauben zu können, dass wir jetzt zu zweit sind, so richtig, mit Namen am Klingelschild, mit Kräuterkindern auf dem Balkon, wir haben uns abgewechselt mit dem Wissen, dass wir uns dafür entschieden haben, nicht mehr zurück zu können.
Scheiß auf Lebensabschnittpartner, wir schneiden uns nichts mehr ab, wir fangen jetzt an, mit unseren Mandelmusmündern, unseren Croissantkrümelhänden, wir schlagen mit den Flügeln, mit uns kommt der Sommer in die Stadt und hält sich freihändig.