2 Versionen

HTML-Ansicht

22.06.2013 index Internet Archive

Rückseitenforschung Manchmal rächt es sich, das Leben, wie ich es führe. Manchmal rächt es sich, aber ich zahle nicht in Falten und Augenringen. Immer vom Schlimmsten ausgehen, das ist am einfachsten und am schwersten zugleich. Immer vom Schlimmsten ausgehen, mehrere Notaufnahmen lang, drei Mal Krebs, zwei Mal Herzinsuffizienz, ein Mal Kammerflimmern, ein Mal Lungenembolie: Diagnosen, die in den Raum gestellt und wieder zurückgenommen wurden und trotzdem etwas in mir hinterließen: das Gefühl, endgültig schutzlos zu sein. In der Notaufnahme arbeitet die Zeit gegen alle: gegen die Wartenden, gegen die Schwestern mit ihren Schneehauben und kühlen Gesichtern. Unter ihren Kitteln vielleicht ein Strauß Farben, nach außen hin aber sind sie optimal an die Umgebung angepasst; nur an roten Wangen und Mündern lässt sich ausmachen, dass da ein Mensch vor weißen Wänden läuft. Es braucht lange, sich durchzuringen, sich für krank genug zu erklären, um eine Notaufnahme zu rechtfertigen. Es braucht die Unfähigkeit, zu stehen, zu atmen, es braucht die Reduktion auf eine Dimension: auf eine Handvoll Wörter, die mit Schmerz zu tun haben. Krankheit ist eine schalldichte Kategorie, die sich im Warten zementiert. Wer lang genug wartet, will nicht mehr bei den Gesunden mitspielen. Wer lang genug wartet, will nur noch von einer Station zur nächsten wandern, Diagnosen einsammeln und Heilsversprechen, an die weder der Arzt noch man selbst glauben kann - aber unter alldem läge ein implizites Versprechen, ein Versprechen von Aufgehobensein. Man wäre darin aufgehoben, Legionen von Röntgenblicken durch sich hindurch marschieren zu lassen. Jeden atmenden, pulsierenden Fetzen könnte man aufheben, beäugen und wieder fallen lassen. Ein Körper ließe sich im Sturm erobern. Wer zu lange wartet, dem wird der Körper zum Feind, zur Lebendfalle; der Kopf voller Schmauchspuren, Schmauchspuren jedes unausgesprochenen Anfangs, jeder Stille hinter einem Versprechen. Wer zu lange wartet, vergisst, sich dankbar zu sein für alles, was man schon ertragen hat. Zuletzt war es immer so, dass ich nicht nichts hatte. Die großen Worte aber schepperten an mir vorbei: Es reichte für Floskeln, für Worte, die so abstrakt waren, dass sie es mit der Unendlichkeit aufnehmen konnten. Es reichte für einen müden Taxiruf im Morgengrauen; die Häuser im Regen draußen wie abgeschminkt, der Wind fuhr kalt durch mein feuchtes Gesicht und ich dachte: wenn jemand all das hier musikalisch begleiten würde, er würde jetzt aufhören zu spielen. Ein Krankenhaus ist ein Ort, an dem wir uns aufspalten, zwei Namen tragen: einen gesunden und einen kranken. Mit etwas Glück wartet am Ausgang jemand, der den richtigen kennt. let it go, it controls you.


25.06.2013 rss Internet Archive

Rückseitenforschung Manchmal rächt es sich, das Leben, wie ich es führe. Manchmal rächt es sich, aber ich zahle nicht in Falten und Augenringen. Immer vom Schlimmsten ausgehen, das ist am einfachsten und am schwersten zugleich. Immer vom Schlimmsten ausgehen, mehrere Notaufnahmen lang, drei Mal Krebs, zwei Mal Herzinsuffizienz, ein Mal Kammerflimmern, ein Mal Lungenembolie: Diagnosen, die in den Raum gestellt und wieder zurückgenommen wurden und trotzdem etwas in mir hinterließen: das Gefühl, endgültig schutzlos zu sein. In der Notaufnahme arbeitet die Zeit gegen alle: gegen die Wartenden, gegen die Schwestern mit ihren Schneehauben und kühlen Gesichtern. Unter ihren Kitteln vielleicht ein Strauß Farben, nach außen hin aber sind sie optimal an die Umgebung angepasst; nur an roten Wangen und Mündern lässt sich ausmachen, dass da ein Mensch vor weißen Wänden läuft. Es braucht lange, sich durchzuringen, sich für krank genug zu erklären, um eine Notaufnahme zu rechtfertigen. Es braucht die Unfähigkeit, zu stehen, zu atmen, es braucht die Reduktion auf eine Dimension: auf eine Handvoll Wörter, die mit Schmerz zu tun haben. Krankheit ist eine schalldichte Kategorie, die sich im Warten zementiert. Wer lang genug wartet, will nicht mehr bei den Gesunden mitspielen. Wer lang genug wartet, will nur noch von einer Station zur nächsten wandern, Diagnosen einsammeln und Heilsversprechen, an die weder der Arzt noch man selbst glauben kann - aber unter alldem läge ein implizites Versprechen, ein Versprechen von Aufgehobensein. Man wäre darin aufgehoben, Legionen von Röntgenblicken durch sich hindurch marschieren zu lassen. Jeden atmenden, pulsierenden Fetzen könnte man aufheben, beäugen und wieder fallen lassen. Ein Körper ließe sich im Sturm erobern. Wer zu lange wartet, dem wird der Körper zum Feind, zur Lebendfalle; der Kopf voller Schmauchspuren, Schmauchspuren jedes unausgesprochenen Anfangs, jeder Stille hinter einem Versprechen. Wer zu lange wartet, vergisst, sich dankbar zu sein für alles, was man schon ertragen hat. Zuletzt war es immer so, dass ich nicht nichts hatte. Die großen Worte aber schepperten an mir vorbei: Es reichte für Floskeln, für Worte, die so abstrakt waren, dass sie es mit der Unendlichkeit aufnehmen konnten. Es reichte für einen müden Taxiruf im Morgengrauen; die Häuser im Regen draußen wie abgeschminkt, der Wind fuhr kalt durch mein feuchtes Gesicht und ich dachte: wenn jemand all das hier musikalisch begleiten würde, er würde jetzt aufhören zu spielen. Ein Krankenhaus ist ein Ort, an dem wir uns aufspalten, zwei Namen tragen: einen gesunden und einen kranken. Mit etwas Glück wartet am Ausgang jemand, der den richtigen kennt. let it go, it controls you.