Vergiss mich noch ein Mal >>

Ze zurrealism itzelf


Wahrscheinlich kannst du nicht fassen, wie schnell die Jahre vergangen sind, Tove, warum sollte es dir besser gehen als mir. Wie stellst du dir mich vor? Vielleicht bin ich ein alter Bibliothekar mit Nickelbrille, der nachts die Seitenzahlen der Bücher überprüft, nicht bei Kerzenlicht, das wäre zu gefährlich. Vielleicht bin ich Waffenhändler und überschlage die Leben, die ich zu verantworten habe, wenn ich nicht schlafen kann. Vielleicht bin ich Bäcker und sorge dafür, dass die Normalen ihren Tag wie gewohnt beginnen können. Die Normalen, mit ihren Brötchen und beruhigenden Frisuren, die ein Leben ohne Mobiltelefon für kompliziert halten, die für einen Strauß Blumen vier Wochen Rückgaberecht erwarten, die Normalen, die glücklich vor sich hin leben wollen, für eine bessere Statistik. Die Normalen, die ihren Kick durch Reflexion bekommen, aber verdammt noch mal, Alufolie reflektiert auch. Am stumpfsinnigsten ist es, etwas Sinnvolles tun zu wollen. Vielleicht dauert mein Gestern für immer, wie Murakami sagen würde, könntest du ihn noch lesen, ernst nehmen, Murakami mit seinem strapazierten hard-boiled-wonderland.
Hat das Leben uns überstimmt, Tove? Reichen unsere Fünf-Minuten-Fluchten nicht mehr, die Zigarette nicht, der immer zu bittere Kaffee nicht, die Fünf-Minuten-Illusion, nur juristisch erwachsen zu sein? Hast du die Suche nach nostalgischen Metaphern für Musik durch Interpretennamen ersetzt, hast du das erste Auto gekauft, bist in eine eigene Wohnung gezogen, eine Kellerwohnung mit viel Ruhe und Plattensammlung, dein eigenes, strapazierfähiges Semi-Paradies?
Hast du festgestellt, dass Reisen nicht mehr reicht, um Erinnerungen zu produzieren, und dass der Alltag schweres Handwerk ist? Der Pflichtteil heißt Träumen, Tove, und vielleicht bist du ein Versager geworden, aufgeschwemmt im bodenständigen Gefühl volljähriger Sätze: Dem Glauben, das Richtige zu sagen. Scheitern kann man an den einfachen Dingen. Scheitern heißt, deine Traurigkeit nicht mehr zu brauchen, scheitern heißt, dass alles an seinem Platz ist. Scheitern ist primitivste Zufriedenheit, Scheitern ist Routine - du weißt, dass du selten noch stürzt, aber immer weißt, wohin du fallen wirst. Scheitern heißt, dass dir die Fragen ausgehen, die wichtigen Fragen. „Was habe ich zu erzählen?“ Ich kann nicht mehr blindlings ins Leere schreiben, nicht mehr über die Grammatik straucheln und an bodenlosen Ideen ohne Boden. Es gibt Wichtigeres als das Schreiben, sonst gäbe es nichts, worüber man schreiben kann, eines Tages, nicht heute. Ich schreibe nicht mehr. Das hier ist nur die Einleitung zu einem Brief an dich, Tove, eine Einleitung, mit der du mich finden kannst. „Was verstehst du unter leben?“

Jede Geschichte beginnt mit einer Flucht. Ich habe nach dir gesucht in meinen Händewanderschaften. Bahnsteige, die in der Hitze dampften. Sonnenschirme über ungezählten Cafés. Schneegestöber vor Neubauten. Straßen und Feldwege. Herrenlose Luftballons über ausgebrannten Tankstellen. Meine Feuersohlen und fremdkalte Nasen im Regen. Glitschige Satinbettwäsche und Gastfreundschaft zwischen den Beinen. (Haut ist bloß eine abwaschbare Oberfläche). Du warst jeder meiner Jahreszeitjungen. Sommerehe und Wintertrost. Schmale und wulstige, eckige und runde Finger. Jeder Schwanz in meinem Mund hat dir gehört, jedes Foto, milchig unter Klebefilm, hat von deinem Lächeln erzählt. Mit dir wollte ich bleiben. Dir ein Wir in den Hals beißen. Aber “du” ist nur ein Wort, es spricht nicht für mich und ich gehe, als wäre es nicht für immer.

Bild via Sina Kampfer

04:00 am

Die nachtschwarzen Wände und Fenster, als wimmelten unzählbare Ameisen darauf, ein einziges Pochen und Krabbeln, aber selbst ein Heer von Skorpionen wäre nicht so gefährlich wie das, das in mir schläft. Ich bin ein Geist, der durch dein Zimmer streift, während du träumst, während dein Bauch sich hebt und senkt, dieser Bauch, auf den ich meine Hände vergeblich gelegt habe, als könnte dein Atmen mich ruhig stellen. Es heißt, man muss sich mit der Angst verbrüdern, aber ich kann kein Blut sehen. Meine Hände ballen sich in den Hosentaschen zum Vaterunser; der Mond legt sich schräg.
Gespensterherzen liegen im Dunkeln, dort, wo nichts mehr sichtbar ist. Ein Herz kann man nicht in der Dunkelkammer entwickeln, hast du einmal gesagt, und ich wusste nichts zu antworten - du verstehst meine Sprache nicht, du bist einer von denen, die leben und ich bin die, die nicht schlafen kann. Meine Wimpern schlagen langsamer mit jeder weiteren durchwachten Nacht. Hinter mir liegen Versuche. Tee und Bier. Blank polierte Toilettenbrillen und Geschirr. Autogenes Training und progressive Muskelentspannung. Joggen und Rennen. Selbsthilfeparolen auf Zettel schreiben und unters Kissen stopfen. Beim Versuch, sie unter deinem schlafschweren Körper hervor zu zerren, wische ich mir die nächste Handvoll Regen aus dem Gesicht. Schlaf bestimmt alles in seiner Abwesenheit. Kein Schlaf ist mein Stalingrad. Die Minuten schießen wie Kanonenkugeln an mir vorbei, jede Stunde ein Streifschuss, ich blute aus allen Poren und die dampfende Tasse Milch fällt mir aus der Hand, so wie mir mein Ich aus der Hand fällt. Was ich verschüttet habe, war vielleicht ein Traum.

Bilddank an Emily

Das Meer schickt Blaufrequenzen aus. Dieser Tag ist kein Farbfehler; wir staunen Küsten und inhalieren Wolken. Möwenrundflug statt Mittagsschlaf. Wir werden vom Wind bestürmt; unsere Sohlen erzählen sich Sandgeschichten, erzählen von Eiscreme und Sonnenkugelbäuchen. Auf unserer Decke liegen Wäschenester; Fische sind uns voraus. Wir umschwimmen die Quallen mit ihren aufgeschwemmten Gesichtern, wir betasten Muschelnähte und lassen uns von Marienkäfern trocknen; sie arbeiten im Schichtdienst auf unseren Armen. Der Horizont kocht Schiffsmeldungen ein: Heute sammeln wir Himmelsrichtungen.

Bilddank an Lucy Muskalunge

Notfallherz

Auf dem rosa Zettel steht „Notfall“, deswegen soll ich nicht mit den anderen fernsehen und Automatenwasser trinken, sondern auf einer Trage liegen, dem Aufnahmetresen gegenüber, in Blickweite. Weißes Papierknistern zwischen dem harten Polster und mir, Hygienevorschrift. In dieses Knistern lege ich mich, versuche, unauffällig zu atmen, als sei ich Kind und presste mich auf einen Feldboden, gefallen in einem Krieg ohne Waffen.
Die anderen werden nach und nach aufgerufen, ein Lokalgangster mit angeschossener Hand, ein kleines Mädchen mit blau geprügelten Augen, eine dicke Mutter mit noch dickerem Sohn und Magenschmerzen. Neben mir sammeln sich weitere Tragen. Festgeschnallte alte Menschen, Faltengesichter und schreiverzerrte Münder. Krankenschwestern verteilen Spritzen und barsche Worte; währenddessen schlägt mein Herz, mein Notfallherz, immer schneller und nimmt mir die Luft. Ich kann keinen Notruf abgeben, weil dafür die Luftnot zu groß ist und ich frage mich, ob es das jetzt war. Ob ich in der Sterilität eines Krankenhauses sterbe, ohne etwas zurück zu lassen, das bleibt. Immerhin: ich weine, also lebe ich noch.
Die Ärztin, die schließlich auftaucht, ist klein und pummlig, sie fragt, ob ich eine Patientenverfügung hätte oder einen Organspendeausweis und lässt mich dann auf meiner Trage in ein Dreierzimmer rollen, die Pfleger sind gesichtslos vor meinem Tränenvorhang und legen Kabelverbindungen zu piepsenden Monitoren, Monitoren, die auf mich aufpassen sollen, weil ich das offensichtlich nicht mehr kann.
Der restliche Tag unterteilt sich in Blutentnahmen, die Pflasterreste an Armen, Händen und Füßen sehen wie Vereisungen aus, eine davon herzförmig: ein Ballonherz an einer Schnur. Die zwei Frauen neben mir fallen sich gegenseitig ins Wort - wenn sie nicht von Königsfamilien sprechen, dann von Einsamkeit. Ich versuche, mir einzureden, dass das Plätschern in ihren Urinbeuteln wie ein Bach klingt und dass ihr Erbrechen vorm Frühstück nur gesund sein kann; der Toast ist ohnehin kalt und hart wie das Braun der unberührten Schränke. Wir sind verkabelt, wir können nichts außer warten. Immerhin: ich bekomme Besuch. Der Besuch sitzt neben mir auf dem schmalen Bett, unter uns Plastik, ein Schutz gegen alles, was flüssig und menschlich ist. Der Besuch legt mir seinen Kopfhörer ans Ohr, Low singen „Try to sleep“ und die Blutdruckmanschette zieht sich zusammen, lässt meine Hand ein Stück seinen Oberschenkel nach oben wandern. Mit dem Besuch neben mir kann ich schlafen. Der nächste Morgen bringt wenig Neues: Mit meinem Herz stimmt etwas nicht. Vielleicht wohnt in ihm immer noch jemand, den es nicht gibt.

Der Wein ist clean. Wir bestellen Ente, die schwimmen und singen kann und ernten gebackenen Tofu. Später feilschen wir um Sonnenbrillen und der Abend gibt uns ein Eis aus - unserem Schokoladenlächeln entkommt niemand. Auf der Oberbaumbrücke steht ein Mann im Uringestank und mixt Mojitos; ein schmerbäuchiger Engländer hält uns eine Socke unter die Nase, er will gegen Spenden Osterhase spielen. Die Canons der Hipstermädchen sind ihre eigene Persiflage, zwinkernd kuscheln sie sich an wehende Polyesterblusen, baumeln gegen verschwitzte Leggins. (Wir wären ja alle gern zerbrechlich.) Das schwimmende Hostel erfüllt western standards, die Lounge bleibt trotzdem unbesetzt, ein Floß in Armyfarben treibt vorbei, der Kapitän trägt Ray-ban und zeigt den Mittelfinger nur, weil sein in die Jahre gekommenes baby ihn knipst.
Wer mir zu nah kommt, muss küssen. Ich lecke Morgen in deine Augenbrauen. Die Bäume sind Vogelherbergen, eine Katze legt den Kopf schräg, wir lenken sie mit Miauen ab. Die machen Liebe, kichert es aus der Nähe, und ich denke, bei Bukowski würde das heißen, er fickte sie durch.

Du bist Glück der übelsten Sorte



In deinen drei Worten schläft der Sommer.

Du brauchst niemanden, der dich rettet. Du brauchst jemanden, der dich an den Menschen erinnert, der du sein kannst.

Trösten können kleine Dinge; ich suche nach den großen.

Wir sind süchtig danach, zu verschwinden.

[Dieser Blog wächst in euren Händen, unter euren Blicken. Jedes Wort: für euch, und die Freude. Mit euch: herzhoch springen]

Schau in die Kühle. Ein Lächeln wächst ungefragt zwischen den Mündern. Etwas verschiebt sich, dieser Abend nimmt uns vorweg. Kein Donner zu hören; nur Löffelpoltern auf Glas, Paukenschlag Eis auf der Zunge und Sahnerinnsal am Hals. Es gibt nichts, was gegen Herzschwäche spricht; sie sichert das Gelände für uns. Ich wache neben dir auf dem Boden auf; wir zählen zu denen, die nachts am besten blühen. Wir zählen zu denen, die süchtig danach sind, zu verschwinden. Wenn man es sagen dürfte, ich würde sagen: In unseren Fingerkuppen schläft Licht.

Bilddank an momentofchange3.tumblr.com