drama?

Ze Zurrealism Itzelf


Ars memoria

Mein Vater war von der Klinik überzeugt, kaum dass wir die Eingangshalle betreten hatten - ihm stach nämlich das kostenlos zugängliche Schuhputzgerät ins Auge. Mich persönlich sprach zum Einen die schnieke Blondine hinter der Rezeption an, zum Anderen (und vor Allem) das stylische Internet-Terminal mit den Weltzeituhren darüber - Berlin, Tokio, New York. (Dabei waren wir doch in der norddeutschen Provinz!)
Mein Zimmer war eigentlich für Privatpatienten vorgesehen und dementsprechend à la Hotel aufgemacht, von der Sitzecke mit Polsterstühlen, eigener Dusche und WC (Hinfort mit den psychiatrischen Zeiten! Viererzimmer? Gemeinschaftsbad? Weichet von mir!) bis zu den niedlichen Schokoladentäfelchen auf dem Kopfkissen; abends gab es mehr als eine Sorte Brot und die Mitpatienten konnten in ganzen Sätzen sprechen.
Anfangs regte ich mich über die wehleidigen Vierzehnjährigen auf, die behaupteten, seit ihrer Kindheit keine Entspannung mehr zu kennen. Über Lara, die ihr Schnarchen während der Imaginationsübungen beharrlich als Trance bezeichnete und behauptete, der Stift, den sie mir geklaut hatte, gehöre eigentlich ihr. (“Aber da ist doch mein Name eingraviert!” - “Ja UND?!”) Über die Krankenschwestern, die behaupteten, meine dunklen Augenränder hätte ich mir aus Geltungssucht nur aufgemalt. Über Doktor Birk, der Selbsthilfebücher schrieb und uns der Verkaufszahlen zuliebe einreden wollte, dass er einer von uns wäre. Er erzählte, dass während seiner Urlaube oft die Aussicht aufs Meer getrübt sei, weil die Fenster vom Salzwasserwind verschmutzt würden, und er deshalb immer ein Fläschchen Essigreiniger dabei habe, so wie die Seele ab und zu ein bisschen Essigreiniger bräuchte, um das Schöne wieder ungetrübt sehen zu können. Die besten Strategien gegen alles seien Dankbarkeit (etwa die Dankbarkeit, Birks Bücher nicht gekauft zu haben), und Entspannungsübungen, in jeder Situation (vielleicht auch bei Waldbränden).
Aber ich hatte noch nicht Synke kennen gelernt, eine muntere Adipöse, die mir ganz entspannt erklärte, dass der Amoklauf von Winnenden sie kein Stück mitgenommen habe, denn das sei schlecht vorbereitete und stümperhaft ausgeführte Arbeit gewesen. Sie selbst könne niemals Amok laufen, fügte sie hinzu - sie sei einfach zu perfektionistisch. Synke arbeitete in der Pathologie und wollte mir auch gleich ein paar hübsche Anekdötchen erzählen, etwa, warum ein menschliches Auge so schwer zu zerschneiden ist. Synke gehörte auch zur Zunft der Nachwuchsschriftsteller - die Lektüre ihrer jüngsten Kurzgeschichte, in der eine Frau zersäbelt und später als Hackfleisch verkauft wird, vermied ich meinem Magen zuliebe. Ihr Kommentar zu meiner LiebeundKummerprosa: “Du bist schon ziemlich destruktiv drauf, oder?”

38,2°

Ich weiß ja, Sehnsucht steht uns besser als Heimat. Im Suchen kennen wir die Wege blind, müssen wir nirgendwo ankommen. Das Gute am Fiebern ist, dass nichts geplant werden muss, dass eine Weile lang Stille im Kopf herrscht und Platz macht, fürs Begreifen. Dass die Sorgen dieselben geblieben sind, aber dass ich ganz leise nebenher gewachsen bin. Dass aus dem bleichen, stummen Mädchen eine Wortsammlerin geworden ist, eine, die laut und dreckig lachen kann. Die beinah selbstverständlich aus dem Haus geht, die Zug fährt, in Flugzeuge steigen kann, und das Meer sehen. (Manchmal ist es, als hätte ich früher keine Farben gekannt.)
Glück ist mir noch immer zu abstrakt, ich atme noch immer nur auf Verdacht, aber am Reißbrett Horizont sind trotzdem rote Fäden gespannt, scheint die Möglichkeit auf, dass es mehr für mich geben könnte als Herztrigger und Angstkarriere.
Das Haus von damals steht noch; es bedeutet noch immer zu viel, und es gibt immer was zu überwinden - aber es gibt auch Sicherheit, die nachwächst. Weil heute nicht mehr nach Ersatz schmecken muss. Weil heute kein Mund mehr fehlt, den ich küssen will. Wer krank ist, braucht nichts zu lernen, braucht sich nicht zu interessieren; das eigene Innere wirft schon zu viele Fragen auf. Ich würde gern zurück, dem Mädchen von vor zehn Jahren über den Kopf streichen, und sagen: Bis später, wenn dein Leben ein anderes ist.

Bilddank an kayruhe.

adieu, 2012.

Ich durfte mit einer Literaturperformance an der transmediale teilnehmen, wurde bei einer großartigen Agentur unter Vertrag genommen und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass das wirklich ernst werden kann, mit dem Schreiben und mir.
Ich lag nachts wach, mit aufeinander schlagenden Zähnen und Triggerherz, aber es gab eine Hand, in die ich meine legen konnte. Eine Hand, die mehr zählte als alle Versuche, die Welt in einem Raum zu versammeln. Ich habe mich zu lange vor Therapeuten ausgestellt: ein Museum der Schuld, ein begehbarer, fiktiver Raum, wo kein Platz blieb für neue Erinnerungen.
Ich lernte, dass man Menschen nicht immer eine zweite Chance geben muss. Ich sagte Hildesheim erst adieu, als ich längst in der neuen Stadt war, mit einem Abschluss in der Tasche und der Hoffnung, anzukommen. Und dieses Ankommen aushalten zu können. Mein Bild fand nach Brüssel und meine Texte in die Welt in 100 Jahren, in eine Anthologie meiner Schreibschule und meiner alten Heimat. Ich sprach meine erste Buchrezension für den WDR ein und verstand, dass ich mehr davon will, von dieser Radioarbeit, und dass ich nicht nur mehr Druck in der Stimme, sondern auch im Wesen brauche.
Ich habe das Meer wieder gesehen und eine Muschel mit Widerhaken gefunden, eine Revoluzzermuschel. Ich bin zum ersten Mal auf einen Berg gestiegen und habe etwas von seiner maßlosen Stille mit nach unten genommen, ins jetzt. Und ich hab mir versprochen, dass das Buch dieses Jahr fertig wird. Und dass es ein gutes wird.

Bilddank an Schall und Schnabel.

open mike 012

Hier läuft es auf Schummrigkeit hinaus und darauf, dass alle da sind. Es läuft darauf hinaus, zu rauchen. Es läuft darauf hinaus, dass alle viele Gedanken und Gefühle haben. Es läuft auf Applaus hinaus und dass ich nicht dabei sein will. Während die Jury offenbart, wer dieses Jahr für wertvoll befunden wurde, will ich Absperrband um meinen Körper wickeln. Das hier ist zu viel, zu laut; das hier steht mir bis zum Hals.

[bei ocelot weiter lesen]