drama?

Ze Zurrealism Itzelf


Theorieanwendung Fortgehen

Schreiben, um nicht zu vergessen, das funktioniert nicht, sagt er, weil niemand ehrlich ist, wenn er sich erinnert.
Gestern gibt es ein paar Sätze lang Ruhe, weil dich keiner böse überraschen kann. Weil du behaupten und glauben kannst, dass der andere angefangen habe mit der Theorieanwendung Fortgehen. Dass niemals du eine Tür zugeschoben hättest, dass niemals du prophylaktisch kaputt gemacht hättest, was gerade angefangen hatte, zu wachsen. Egal, welchen Namen du der Vergangenheit gibst, sie setzt sich nicht zur Wehr.
Gestern gibt es ein paar Sätze lang Ruhe, aber dann eroberst du mit dem rechten Fuß die Bettdecke zurück, weil du im Halbschlaf vergisst, dass es niemanden gibt, mit dem du um sie kämpfen musst. Gestern lächelst du nicht beim Aufwachen, gestern ist dein Gesicht schweißlackiert, vor sauber ausgeführter Angst. Gestern gibt es Spiegel nur, um dir beim Alleinsein zuzusehen.
Gestern macht nicht immun, nicht mal gegen dich selbst. Gestern kann dir keiner mehr etwas wegnehmen, aber du nimmst dir alles, was du für heute brauchen könntest. Schreiben, um nicht zu vergessen, das funktioniert nicht, weil es dann keine neuen Erinnerungen gibt.

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Bilddank an donmezerm.

Unter der Decke erkenne ich mich: immer noch Tier, das im Dunkeln lebt, unter der atemlosen Wärme von Baumwollstoff. Die Decke hüpft unter meinem Husten nach oben; wenn alles fiebert, bin ich unzugänglich, ist kein Raum mehr für Zweifel, existiert nur noch ein Horchen nach innen: ob es weitergeht, trotz Allem.
In allen Zimmern, in denen ich lebte, habe ich unter zu schweren Decken gelegen und Vorsätze gefasst, wollte erst dünner, dann nicht mehr essgestört sein, wollte mit Sport anfangen und aufhören, immer den falschen Leuten weh zu tun.
Morgen würde ich die richtigen Gefühle und Fertigkeiten haben. Morgen würde ich fortgehen, an einen Ort, an dem ich besser wäre. Morgen würde meine Stimme weiter tragen.
Aber mein Gespür für die Welt blieb heiser, kratzte nur an glänzenden Oberflächen; ich habe die Einsamkeit nicht genutzt, habe keine Vogelstimmen auseinander halten gelernt; es gibt kein Geräusch, aus dem ich Wind- oder Feindrichtung lesen könnte.
Meine Augen tränen noch immer, wenn es draußen hell wird, erinnern mich daran, wie versiegelt mein Körper über Jahre gelebt hat, versiegelt in einem Raum: genau abgemessenes Traumterritorium, und mein Körper sicher eingewickelt in Endlosschleifen von Straucheln.
Jedes gesprochene und unausgesprochene Wort kreist um den Schmerz von gestern: aus ihm nehme ich den Trotz, den Zorn, den es braucht, um durch einen weiteren Tag zu gehen. Gestern fordert professionelle Versuche von Trost, Gestern behält die Frage im Blick, warum es mich immer noch gibt: im Zweifelsfall ist es alles, worauf ich zählen kann. Ich bin noch immer am besten darin, Geschichten vom Scheitern zu erzählen. Zynisch verzogener Mund zum blassen Kleinmädchengesicht: damit bin ich gut angezogen, bis der Körper nicht mehr verzeiht, dass es nur bei Vorsätzen bleibt, bis andere nicht mehr verzeihen, dass ich zu feige fürs Glücklichsein bin.

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Bilddank an journalofanobody.

Speicher von Gestern

Ich bin schon zu oft hier gewesen. Hier unten, wo das Gesicht ganz ausgeblichen ist vor lauter Wachsein. Ich habe auf deiner Hautlandkarte nach Auswegen gesucht, zwischen deinen Muttermalen Wege gezeichnet. Dein Körper ist Labyrinth, meiner Sackgasse.
Du hältst mich für ruhig, weil du mich nicht kennst, wenn ich allein bin. Du hast nie gehört, wie ich gegen die Stille der Wohnung ansinge, du hast nie gesehen, wie ich mich mit zusammen gepressten Lidern auf dem Boden krümme, weil er doch irgendwann kommen muss, dieser Schlaf, von dem alle reden.
Leben im Bewusstsein des Todes, das raten sie denen, bei denen noch alles auf Anfang steht. Alle Handvoll Wochen will ich letzte Worte ausgeben, suche meinen Kopf ab nach klugen Gedanken, damit es so aussieht, als hätte ich etwas Wichtiges verstanden, kurz bevor. Aber Verzweiflung ruft bloß die alten Fragen aufs Feld: wann ist mein Körper zum Feind geworden? Wann hat er verlernt, einzuschlafen, wann hat er verlernt, ein paar Stunden lang einfach nur zu sein?
Ich will jedes falsche Wort, jeden zornigen Blick zurück nehmen, aber ich kann nicht mal mit mir selbst Frieden schließen. Das Kind in dir hört zu, wenn du sprichst, und ich habe keine Geschichte erzählt, die Heilung bedeuten könnte.
Ich dachte, dass ich über die Wunden zurück finde, dass es nichts bringt, sie zu ignorieren und darauf zu hoffen, dass die Zeit sie auslöscht. Ich dachte, dass ich mitten hinein greifen muss. Dass sich die Endlosschleife Schmerz unterbrechen lässt, wenn jemand dazwischen geht, sein Herz ins Spiel bringt.
Ich habe mir beigebracht, zu lieben, aber geliebt werden, das bleibt mir fremd, so wie mir das Ankommen fremd bleibt, das Aufatmen. Mein Zweifelkopf: ein schlecht gefülltes Fragment. Ein Speicher von Gestern, der die Haut von innen aufschürft, ein Machtanspruch von Verfall.

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Bilddank an foxesandhoney.

Ars memoria

Mein Vater war von der Klinik überzeugt, kaum dass wir die Eingangshalle betreten hatten - ihm stach nämlich das kostenlos zugängliche Schuhputzgerät ins Auge. Mich persönlich sprach zum Einen die schnieke Blondine hinter der Rezeption an, zum Anderen (und vor Allem) das stylische Internet-Terminal mit den Weltzeituhren darüber - Berlin, Tokio, New York. (Dabei waren wir doch in der norddeutschen Provinz!)
Mein Zimmer war eigentlich für Privatpatienten vorgesehen und dementsprechend à la Hotel aufgemacht, von der Sitzecke mit Polsterstühlen, eigener Dusche und WC (Hinfort mit den psychiatrischen Zeiten! Viererzimmer? Gemeinschaftsbad? Weichet von mir!) bis zu den niedlichen Schokoladentäfelchen auf dem Kopfkissen; abends gab es mehr als eine Sorte Brot und die Mitpatienten konnten in ganzen Sätzen sprechen.
Anfangs regte ich mich über die wehleidigen Vierzehnjährigen auf, die behaupteten, seit ihrer Kindheit keine Entspannung mehr zu kennen. Über Lara, die ihr Schnarchen während der Imaginationsübungen beharrlich als Trance bezeichnete und behauptete, der Stift, den sie mir geklaut hatte, gehöre eigentlich ihr. (“Aber da ist doch mein Name eingraviert!” - “Ja UND?!”) Über die Krankenschwestern, die behaupteten, meine dunklen Augenränder hätte ich mir aus Geltungssucht nur aufgemalt. Über Doktor Birk, der Selbsthilfebücher schrieb und uns der Verkaufszahlen zuliebe einreden wollte, dass er einer von uns wäre. Er erzählte, dass während seiner Urlaube oft die Aussicht aufs Meer getrübt sei, weil die Fenster vom Salzwasserwind verschmutzt würden, und er deshalb immer ein Fläschchen Essigreiniger dabei habe, so wie die Seele ab und zu ein bisschen Essigreiniger bräuchte, um das Schöne wieder ungetrübt sehen zu können. Die besten Strategien gegen alles seien Dankbarkeit (etwa die Dankbarkeit, Birks Bücher nicht gekauft zu haben), und Entspannungsübungen, in jeder Situation (vielleicht auch bei Waldbränden).
Aber ich hatte noch nicht Synke kennen gelernt, eine muntere Adipöse, die mir ganz entspannt erklärte, dass der Amoklauf von Winnenden sie kein Stück mitgenommen habe, denn das sei schlecht vorbereitete und stümperhaft ausgeführte Arbeit gewesen. Sie selbst könne niemals Amok laufen, fügte sie hinzu - sie sei einfach zu perfektionistisch. Synke arbeitete in der Pathologie und wollte mir auch gleich ein paar hübsche Anekdötchen erzählen, etwa, warum ein menschliches Auge so schwer zu zerschneiden ist. Synke gehörte auch zur Zunft der Nachwuchsschriftsteller - die Lektüre ihrer jüngsten Kurzgeschichte, in der eine Frau zersäbelt und später als Hackfleisch verkauft wird, vermied ich meinem Magen zuliebe. Ihr Kommentar zu meiner LiebeundKummerprosa: “Du bist schon ziemlich destruktiv drauf, oder?”