drama?

Ze Zurrealism Itzelf


für Wolfgang Herrndorf.

In der letzten Woche habe ich dich überall in den Straßen Berlins gesehen, natürlich wusste ich, dass das nicht du warst, ich sah dich bloß in den großen, schmalen Männern, den kantigen Gesichtszügen, und mich überkam dieser plötzliche Drang, dir zu schreiben, dir zu danken für jedes Stück Mut, das aus deinen Worten zu mir gesprochen hat, zu mir unter vielen, und dennoch.
Und dennoch hast du mich erinnert, ans Durchhalten und Durchatmen, so beschissen das auch ist, dass es immer noch ein größeres Leid braucht, um sich zu erinnern, dass jeder, dass dieser Tag ein verdammtes Geschenk ist, und dass man sich links und rechts ohrfeigen sollte, wenn man an diesem Tag nicht das tut, was man tun muss. Wenn man das Buch oder den Brief nicht zu Ende schreibt. Wenn man nicht anruft, wenn man nicht Sturm klingelt. Wenn man nicht lächelt. Wenn man nicht weint. Wenn man nicht den Mut aufbringt, zu sagen, ich liebe dich oder ich glaube, das mit uns ist vorbei.
Ich hätte dir schreiben sollen. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich ohne dich so oft nicht mehr weiter gewusst hätte. Es hätte nichts besser gemacht, es hätte dein Elend nicht verkleinern können und den elenden Tumor sowieso nicht. Es hätte deine Einsamkeit nicht geschmälert, diese endlose Einsamkeit, die dich in die Nacht getragen hat, die dich ein Ende hat machen lassen, ehe es dein Körper, dein Feind, es konnte. Aber ich hätte so gern daran geglaubt.

Es war zu früh. Es wird immer zu früh sein.

Und wenn es einen Gott gibt dort draußen, hoffe ich, dass er wenigstens jetzt gut für dich sorgt.

Du fehlst, Mann. du fehlst.

für M.

Ich erinnere dich in Schnappschüssen. Ich liege im Krankenhaus, draußen ist Sommer, drinnen wird die Luft eng, drinnen atmen die, von denen die draußen nichts wissen wollen. Drinnen erreichen mich deine Briefe, deine fein geschwungene Schrift.

Du schreibst, dass das Licht nach den dunklen Jahren unfassbar sein wird. Ich glaube dir nicht, und ich tue dir unrecht. Denn du hast Recht. Ich werde jeden Tag über das Blutrot des Sonnenuntergangs staunen, über die Weite des Himmels, über Blumenfarben am Straßenrand, ich werde mit dem Wind lachen, der mir das Haar zerzaust, und ich werde verstehen, dass ich in der Dunkelheit zum Schreiben gefunden habe.

Du hast die richtigen Fragen gestellt, von Anfang an, aber ich konnte nur wenige davon beantworten. Mir zerstob jeder Ausdruck, jede Metapher, die eben noch glatt auf meiner Zunge gelegen hatte. Ich konnte mich auf meine Worte nicht mehr verlassen. So sehr hast du mich aus der Fassung gebracht.

Du liebst die norwegische Sprache nicht ohne Grund, denke ich heute. Tief gesprochene, fast gesungene Worte, von klarer Struktur, zurückhaltend, aber liebevoll.

Ich würde gern all meine Briefe an dich neu schreiben. Würde rechtzeitig erkennen, wie viel Platz für Sorge in deinem Lächeln steckt. Ich habe dir nicht oft genug gesagt, dass du so viel mehr erreicht hast, als du glaubst. Weil du zu dir geworden bist. Du bist der schönste Mensch, den ich je gesehen habe. Und am schönsten warst du im Wort, in deinen Gedanken. Du wolltest ein Buch schreiben, und du wusstest, dass das Wichtigste die Widmung ist.

Du hast jemanden geliebt, eine Liebe, die Wundbrand war. Du warst so demütig angesichts dessen, was du verloren hast. Du trugst nicht schwer an deinem Schmerz, du trugst schwer an Ungeduld, am Warten auf den Tag ihrer Rückkehr. Für diese Frau hättest du alles hinter dir gelassen. Ich habe dir nicht gesagt, dass ich gern diese Frau gewesen wäre. Oder wie sehr ich mich in deine Angst vor Belanglosigkeiten verliebt habe. Oder dass du immer Teil von mir sein wirst. So ist das eben mit den Menschen, die im Dunkeln deine Hand nehmen. Wenn du nichts mehr sehen kannst, wirst du umso stärker fühlen.

Ich habe deine Stimme verloren, weißt du. Es ist zu lange her. Ich würde sie unter vielen nicht wieder erkennen. Aber ich wünsche mir, dass ich das nicht muss. Ich wünsche mir, dass wir uns eines Tages an irgendeinem Bahnhof gegenüberstehen, müde von der Fahrt und vom Vorfreuen, und dass ich dir sagen kann: Ich habe es damals nicht gewusst, aber du hast mir das Leben gerettet.

Worte von gestern

Im Spiegel bin ich noch Mädchen, im Spiegel ist noch Zeit, bis es ans Zugreifen, ans Zupacken geht. Bis Füße nicht mehr stolpern, bis Augen nicht mehr suchend auf dem Boden, auf Haut tasten dürfen.
Älter werden ist eine ruckartige Bewegung; eines Morgens kräuseln sich Ahnungen auf der Stirn, auf den Oberschenkeln. Eines Morgens gähnt es sich beharrlicher, tiefer, und das, obwohl ich mich in all den durchwachten Nächten nicht am Lachen verschluckt habe. Wach sein, das hat nichts mit Tanzen zu tun, der Strobo in Mitte reicht nicht bis in mein Zimmer; hier gab es nur das Wissen, die Ahnung, die Hoffnung, dass noch Zeit wäre. Dass ich es mir leisten könnte, die Welt vor den Fenstern vorbei ziehen zu lassen.
Die Haare vom Kissen dicht ans Kinn gedrückt: liegen und den Worten zuschauen, wie sie sich formen im Kopf. Liegen im Wissen, dass ich irgendjemanden noch wecken kann, einen der schmal geschnittenen Jungen, die daran glauben, dass man mich retten könnte oder müsste. Emotionspingpong durch Glasfaserkabel: ein fremdes Lächeln ist immer am schönsten, am sichersten.
Vielleicht hat es mit dem älter werden zu tun, dass man kaum jemanden noch wecken darf. Der Bedarf an Illusionen sinkt; heute träumt man von Alltag. Die Guten, sagte Großmutter, die Guten sind immer zuerst weg, übrig bleibt Ausschuss. Übrig blieb ich; übrig blieben fremde Herzen, in die ich zur Zwischenmiete einzog, ein paar Wochen und Telefonstimmen lang. Das unretuschierte Gesicht bei Skype: ein Cliffhanger für zwei. Danach fängt man an, die Sätze des anderen abzugleichen mit dem, was man eigentlich will. Danach fragt man sich, ob die Stille am anderen Ende der Leitung wirklich Lächeln ist.
Manchmal sucht man sich ein Nest im fremden Bett, flüstert einander Fabeln vom Gelingen ins Ohr. Manchmal nimmt man eine Pause vom Alltag, bis die Münder sich ampelrot färben. Bis sich Unausgesprochenes zwischen uns sammelt; in unseren Köpfen ist von Enttäuschung die Rede. Das Lächeln schmilzt weg, weil wir einander nicht erkannt haben, obwohl man uns hätte ausdrucken können, seiten- und bücherlang sind wir uns einig gewesen. Sehnsucht muss nicht übersetzt werden: im bedürftig sein verstanden wir uns.
Später dünnen die Nachrichten aus, magern ab bis zum Schweigen; später ist auch das Nichtschwimmerbecken Internet eines, in dem man untergehen kann.

save yourself a song.

Betrunken sein unter schubsenden, singenden Anderen. Es ist nicht so, dass ich das nicht versuche mit dem normal sein. Dass ich nicht wüsste, dass Nächte mehr zu bieten haben als Musik und Bücherstapel und Sehnsucht ohne Ort.
Es ist nicht so, dass ich nicht nippe und kaue und schlucke. Dass ich nicht küsse und frage und antworte. Es ist nicht so, dass ich nicht lächle, wenn das richtige Lied mich anfällt.
Es ist nur so, dass ich bloß imitiere. Im Brustraum pochen Leerstellen, mein Puls telegrafiert Nachrichten, die ungehört bleiben. Sobald ich versuche, eine Geschichte zu erzählen, stellt sie ihre eigenen Regeln auf. Drinnen, in meinem Raum, meiner Komfortzone, bilde ich mir Berührung in der Sprache ein, Verstandensein. Draußen verstehe ich, dass es nur Aufprall geben kann. Erschütterungen.