drama?

Ze Zurrealism Itzelf


Passenger

Noch bevor die S-Bahn einfährt, sehe ich sie, meinen Zwilling, größer und schwerer als ich, die Haare rot und kurz geschoren, trotzdem sind wir gleich, richten unsere Blicke unsicher auf die spiegelnden Fenster, zupfen an Schal und Mantel, als könnte uns das beruhigen, und als sie zu sprechen beginnt, beißt sich jedes Wort in meine Magengrube. „Er lebt einfach weiter, als wäre nichts gewesen, und ich stecke fest und komme nicht vorwärts.” Er, das könnte ein Vater sein, ein Liebhaber oder auch Gott; es spielt keine Rolle. Ihre Freundin, die Stichwortgeberin, bringt das Schlagwort „Therapie“ ins Spiel und erntet heftiges Nicken: „Stimmt, ich bin weitergekommen, ich habe Therapie gemacht. Ich setze mich auseinander und er verdrängt alles nur!“

Ich schaue in ihr bleiches Gesicht, taste meine eigene blasse, kalte Stirn entlang, ich stelle mir vor, wie auch ihre Hände zu zittern beginnen, sobald sie aufgeregt oder überfordert ist, wie nach und nach ihr ganzer Körper bebt, wie ihre Zähne aufeinander zu schlagen drohen, wenn ihr einfällt, eine Rechnung nicht rechtzeitig beglichen zu haben, wenn jemand sie anschreit oder wenn sie mit jemandem spricht, den sie eigentlich küssen will.

Menschen wie wir, denke ich, bleiben an Therapie hängen, wir verpassen den Moment, der Schubhilfe geben kann und klammern uns fest. Weil ein Therapeut sich immer auf unsere Seite schlagen wird, und genau das hat uns ein Leben lang gefehlt. Auch wenn er das nur tut, weil es sein Job ist, weil er dafür mehr Stundenlohn bekommt, als wir je erreichen werden mit unseren Bruchlebensläufen, bleiben wir, fragen noch einmal nach, rufen jeden Schmerz wach, an den wir uns nur flüchtig erinnern, wir wecken jeden schlafenden Hund, wir fangen an, den Schmerz wichtiger zu nehmen als den Rest, wir bleiben einfach stehen, auf Alarmstufe Rot, und glauben, dass wir auf diese Weise heil werden könnten.

Und unsere Väter, unsere Liebhaber nehmen unterdessen sich selbst wichtig, sich ganz und gar, nicht nur ihren Anteil Schmerz. Vor meinem inneren Auge werden wir älter, mein Zwilling und ich, ich sehe, wie sich Falten in unsere Gesichter graben, ich sehe, wie wir uns damit zufrieden geben, die Verantwortung auszulagern, einen Vater, einen Liebhaber, einen Therapeuten damit zu beauftragen, uns von wahr und falsch zu erzählen, auf dass wir uns nicht mehr allein fühlen mit dem Gewicht der Entscheidungen, die wir treffen müssen, jeden Tag.

Oblivion

Manchmal ist es gut, dass sich Winterabende wie Nächte anfühlen, manchmal stehst du allein draußen auf einem Bahnsteig, du wartest im spärlichen Licht auf einen Menschen, der dir einmal alles war, dein Atem steigt schnell und weiß nach oben, wo ein Scheinwerfer abkippt, durch ein leeres Bürogebäude fährt, als wollte er Schreibtischen und Drehstühlen durch die Haare wuscheln. Und du schaust von fern auf Berlins Silhouette, und du stellst dir vor, wie weit wir alle hätten kommen können, wenn wir das mit der Missgunst ausgelassen hätten. Wenn wir nicht damit angefangen hätten, uns bei Fremden für unsere Narben revanchieren zu wollen. Wenn wir einfach nur versucht hätten, besser zu werden, von Anfang an.

To the lost.

Und dann fällt dir auf, dass du niemanden mehr erstaunen kannst, wenn du dein Geburtsjahr in den Raum wirfst, das mit dem Welpenschutz hat aufgehört, du bist jetzt in der Kategorie „erwachsen“ eingeklemmt, auch wenn du immer noch drei, vier, fünf Jahre jünger aussiehst, als du tatsächlich bist. Du musst dich jetzt anstrengen, um nicht als Mittelmaß zu gelten, schon vor Jahren hat Mutter dich gewarnt, dass man ab Ende zwanzig niemandem mehr niedlich kommen kann, und du wolltest ihr nicht glauben, denn wenn du schon nie die richtige Figur, die richtige Frisur hattest, so hattest du doch wenigstens deine Blumen im Haar, dein schallendes Lachen, und jetzt ist all das bald nichts mehr wert. Mit sechzehn hast du dir alles anders vorgestellt – 2013, da hättest du einen stromlinienförmigen Lebenslauf und ein stromlinienförmiges Gefühlsleben, da wärst du in und mit allem sicher, 2013, da würden dir keine Freundschaften wegbrechen, weil die einen glauben, du hättest nur noch Luxusprobleme und die anderen, du seist zu marode, als dass man dich mitschleppen sollte, als dass man sich Fragen wie „wie geht es dir wirklich?“ aufhalsen will. 2013, da würdest du nicht das Gefühl haben, noch einmal ganz neu anfangen zu müssen, alles auf anders zu stellen. 2013, da würden nicht um dich herum die Guten anfangen, zu sterben, da würde sich niemand erschießen, da würde niemand einen inoperablen Tumor haben, da würde niemand einfach so auf den Boden stürzen, ohne Vorwarnung, und sich weigern, wieder aufzuwachen, da würde das alles einfach nicht passieren, da gäbe es ein Wiedersehen, da gäbe es ein unerschöpfliches Reservoir an Umarmungen, an guten Gesprächen, du würdest nicht verzweifeln, weil du dich nicht verabschieden konntest, weil du nicht oft genug „Ich liebe dich“ gesagt hast oder „Ich bin froh, dass es dich in meinem Leben gibt“. Du hättest keine Angst, dass alles vorbei sein wird, noch bevor du irgendwo angekommen bist.

In the dark, I can hear your heartbeat/
I tried to find the sound/
But then it stopped, and I was in the darkness/
So darkness I became

für Wolfgang Herrndorf.

In der letzten Woche habe ich dich überall in den Straßen Berlins gesehen, natürlich wusste ich, dass das nicht du warst, ich sah dich bloß in den großen, schmalen Männern, den kantigen Gesichtszügen, und mich überkam dieser plötzliche Drang, dir zu schreiben, dir zu danken für jedes Stück Mut, das aus deinen Worten zu mir gesprochen hat, zu mir unter vielen, und dennoch.
Und dennoch hast du mich erinnert, ans Durchhalten und Durchatmen, so beschissen das auch ist, dass es immer noch ein größeres Leid braucht, um sich zu erinnern, dass jeder, dass dieser Tag ein verdammtes Geschenk ist, und dass man sich links und rechts ohrfeigen sollte, wenn man an diesem Tag nicht das tut, was man tun muss. Wenn man das Buch oder den Brief nicht zu Ende schreibt. Wenn man nicht anruft, wenn man nicht Sturm klingelt. Wenn man nicht lächelt. Wenn man nicht weint. Wenn man nicht den Mut aufbringt, zu sagen, ich liebe dich oder ich glaube, das mit uns ist vorbei.
Ich hätte dir schreiben sollen. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich ohne dich so oft nicht mehr weiter gewusst hätte. Es hätte nichts besser gemacht, es hätte dein Elend nicht verkleinern können und den elenden Tumor sowieso nicht. Es hätte deine Einsamkeit nicht geschmälert, diese endlose Einsamkeit, die dich in die Nacht getragen hat, die dich ein Ende hat machen lassen, ehe es dein Körper, dein Feind, es konnte. Aber ich hätte so gern daran geglaubt.

Es war zu früh. Es wird immer zu früh sein.

Und wenn es einen Gott gibt dort draußen, hoffe ich, dass er wenigstens jetzt gut für dich sorgt.

Du fehlst, Mann. du fehlst.