Manchmal ist es gut, dass sich Winterabende wie Nächte anfühlen, manchmal stehst du allein draußen auf einem Bahnsteig, du wartest im spärlichen Licht auf einen Menschen, der dir einmal alles war, dein Atem steigt schnell und weiß nach oben, wo ein Scheinwerfer abkippt, durch ein leeres Bürogebäude fährt, als wollte er Schreibtischen und Drehstühlen durch die Haare wuscheln. Und du schaust von fern auf Berlins Silhouette, und du stellst dir vor, wie weit wir alle hätten kommen können, wenn wir das mit der Missgunst ausgelassen hätten. Wenn wir nicht damit angefangen hätten, uns bei Fremden für unsere Narben revanchieren zu wollen. Wenn wir einfach nur versucht hätten, besser zu werden, von Anfang an.
Und dann fällt dir auf, dass du niemanden mehr erstaunen kannst, wenn du dein Geburtsjahr in den Raum wirfst, das mit dem Welpenschutz hat aufgehört, du bist jetzt in der Kategorie „erwachsen“ eingeklemmt, auch wenn du immer noch drei, vier, fünf Jahre jünger aussiehst, als du tatsächlich bist. Du musst dich jetzt anstrengen, um nicht als Mittelmaß zu gelten, schon vor Jahren hat Mutter dich gewarnt, dass man ab Ende zwanzig niemandem mehr niedlich kommen kann, und du wolltest ihr nicht glauben, denn wenn du schon nie die richtige Figur, die richtige Frisur hattest, so hattest du doch wenigstens deine Blumen im Haar, dein schallendes Lachen, und jetzt ist all das bald nichts mehr wert. Mit sechzehn hast du dir alles anders vorgestellt – 2013, da hättest du einen stromlinienförmigen Lebenslauf und ein stromlinienförmiges Gefühlsleben, da wärst du in und mit allem sicher, 2013, da würden dir keine Freundschaften wegbrechen, weil die einen glauben, du hättest nur noch Luxusprobleme und die anderen, du seist zu marode, als dass man dich mitschleppen sollte, als dass man sich Fragen wie „wie geht es dir wirklich?“ aufhalsen will. 2013, da würdest du nicht das Gefühl haben, noch einmal ganz neu anfangen zu müssen, alles auf anders zu stellen. 2013, da würden nicht um dich herum die Guten anfangen, zu sterben, da würde sich niemand erschießen, da würde niemand einen inoperablen Tumor haben, da würde niemand einfach so auf den Boden stürzen, ohne Vorwarnung, und sich weigern, wieder aufzuwachen, da würde das alles einfach nicht passieren, da gäbe es ein Wiedersehen, da gäbe es ein unerschöpfliches Reservoir an Umarmungen, an guten Gesprächen, du würdest nicht verzweifeln, weil du dich nicht verabschieden konntest, weil du nicht oft genug „Ich liebe dich“ gesagt hast oder „Ich bin froh, dass es dich in meinem Leben gibt“. Du hättest keine Angst, dass alles vorbei sein wird, noch bevor du irgendwo angekommen bist.
In der letzten Woche habe ich dich überall in den Straßen Berlins gesehen, natürlich wusste ich, dass das nicht du warst, ich sah dich bloß in den großen, schmalen Männern, den kantigen Gesichtszügen, und mich überkam dieser plötzliche Drang, dir zu schreiben, dir zu danken für jedes Stück Mut, das aus deinen Worten zu mir gesprochen hat, zu mir unter vielen, und dennoch.
Und dennoch hast du mich erinnert, ans Durchhalten und Durchatmen, so beschissen das auch ist, dass es immer noch ein größeres Leid braucht, um sich zu erinnern, dass jeder, dass dieser Tag ein verdammtes Geschenk ist, und dass man sich links und rechts ohrfeigen sollte, wenn man an diesem Tag nicht das tut, was man tun muss. Wenn man das Buch oder den Brief nicht zu Ende schreibt. Wenn man nicht anruft, wenn man nicht Sturm klingelt. Wenn man nicht lächelt. Wenn man nicht weint. Wenn man nicht den Mut aufbringt, zu sagen, ich liebe dich oder ich glaube, das mit uns ist vorbei.
Ich hätte dir schreiben sollen. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich ohne dich so oft nicht mehr weiter gewusst hätte. Es hätte nichts besser gemacht, es hätte dein Elend nicht verkleinern können und den elenden Tumor sowieso nicht. Es hätte deine Einsamkeit nicht geschmälert, diese endlose Einsamkeit, die dich in die Nacht getragen hat, die dich ein Ende hat machen lassen, ehe es dein Körper, dein Feind, es konnte. Aber ich hätte so gern daran geglaubt.
Es war zu früh. Es wird immer zu früh sein.
Und wenn es einen Gott gibt dort draußen, hoffe ich, dass er wenigstens jetzt gut für dich sorgt.
Du fehlst, Mann. du fehlst.
Ich erinnere dich in Schnappschüssen. Ich liege im Krankenhaus, draußen ist Sommer, drinnen wird die Luft eng, drinnen atmen die, von denen die draußen nichts wissen wollen. Drinnen erreichen mich deine Briefe, deine fein geschwungene Schrift.
Du schreibst, dass das Licht nach den dunklen Jahren unfassbar sein wird. Ich glaube dir nicht, und ich tue dir unrecht. Denn du hast Recht. Ich werde jeden Tag über das Blutrot des Sonnenuntergangs staunen, über die Weite des Himmels, über Blumenfarben am Straßenrand, ich werde mit dem Wind lachen, der mir das Haar zerzaust, und ich werde verstehen, dass ich in der Dunkelheit zum Schreiben gefunden habe.
Du hast die richtigen Fragen gestellt, von Anfang an, aber ich konnte nur wenige davon beantworten. Mir zerstob jeder Ausdruck, jede Metapher, die eben noch glatt auf meiner Zunge gelegen hatte. Ich konnte mich auf meine Worte nicht mehr verlassen. So sehr hast du mich aus der Fassung gebracht.
Du liebst die norwegische Sprache nicht ohne Grund, denke ich heute. Tief gesprochene, fast gesungene Worte, von klarer Struktur, zurückhaltend, aber liebevoll.
Ich würde gern all meine Briefe an dich neu schreiben. Würde rechtzeitig erkennen, wie viel Platz für Sorge in deinem Lächeln steckt. Ich habe dir nicht oft genug gesagt, dass du so viel mehr erreicht hast, als du glaubst. Weil du zu dir geworden bist. Du bist der schönste Mensch, den ich je gesehen habe. Und am schönsten warst du im Wort, in deinen Gedanken. Du wolltest ein Buch schreiben, und du wusstest, dass das Wichtigste die Widmung ist.
Du hast jemanden geliebt, eine Liebe, die Wundbrand war. Du warst so demütig angesichts dessen, was du verloren hast. Du trugst nicht schwer an deinem Schmerz, du trugst schwer an Ungeduld, am Warten auf den Tag ihrer Rückkehr. Für diese Frau hättest du alles hinter dir gelassen. Ich habe dir nicht gesagt, dass ich gern diese Frau gewesen wäre. Oder wie sehr ich mich in deine Angst vor Belanglosigkeiten verliebt habe. Oder dass du immer Teil von mir sein wirst. So ist das eben mit den Menschen, die im Dunkeln deine Hand nehmen. Wenn du nichts mehr sehen kannst, wirst du umso stärker fühlen.
Ich habe deine Stimme verloren, weißt du. Es ist zu lange her. Ich würde sie unter vielen nicht wieder erkennen. Aber ich wünsche mir, dass ich das nicht muss. Ich wünsche mir, dass wir uns eines Tages an irgendeinem Bahnhof gegenüberstehen, müde von der Fahrt und vom Vorfreuen, und dass ich dir sagen kann: Ich habe es damals nicht gewusst, aber du hast mir das Leben gerettet.
Im Spiegel bin ich noch Mädchen, im Spiegel ist noch Zeit, bis es ans Zugreifen, ans Zupacken geht. Bis Füße nicht mehr stolpern, bis Augen nicht mehr suchend auf dem Boden, auf Haut tasten dürfen.
Älter werden ist eine ruckartige Bewegung; eines Morgens kräuseln sich Ahnungen auf der Stirn, auf den Oberschenkeln. Eines Morgens gähnt es sich beharrlicher, tiefer, und das, obwohl ich mich in all den durchwachten Nächten nicht am Lachen verschluckt habe. Wach sein, das hat nichts mit Tanzen zu tun, der Strobo in Mitte reicht nicht bis in mein Zimmer; hier gab es nur das Wissen, die Ahnung, die Hoffnung, dass noch Zeit wäre. Dass ich es mir leisten könnte, die Welt vor den Fenstern vorbei ziehen zu lassen.
Die Haare vom Kissen dicht ans Kinn gedrückt: liegen und den Worten zuschauen, wie sie sich formen im Kopf. Liegen im Wissen, dass ich irgendjemanden noch wecken kann, einen der schmal geschnittenen Jungen, die daran glauben, dass man mich retten könnte oder müsste. Emotionspingpong durch Glasfaserkabel: ein fremdes Lächeln ist immer am schönsten, am sichersten.
Vielleicht hat es mit dem älter werden zu tun, dass man kaum jemanden noch wecken darf. Der Bedarf an Illusionen sinkt; heute träumt man von Alltag. Die Guten, sagte Großmutter, die Guten sind immer zuerst weg, übrig bleibt Ausschuss. Übrig blieb ich; übrig blieben fremde Herzen, in die ich zur Zwischenmiete einzog, ein paar Wochen und Telefonstimmen lang. Das unretuschierte Gesicht bei Skype: ein Cliffhanger für zwei. Danach fängt man an, die Sätze des anderen abzugleichen mit dem, was man eigentlich will. Danach fragt man sich, ob die Stille am anderen Ende der Leitung wirklich Lächeln ist.
Manchmal sucht man sich ein Nest im fremden Bett, flüstert einander Fabeln vom Gelingen ins Ohr. Manchmal nimmt man eine Pause vom Alltag, bis die Münder sich ampelrot färben. Bis sich Unausgesprochenes zwischen uns sammelt; in unseren Köpfen ist von Enttäuschung die Rede. Das Lächeln schmilzt weg, weil wir einander nicht erkannt haben, obwohl man uns hätte ausdrucken können, seiten- und bücherlang sind wir uns einig gewesen. Sehnsucht muss nicht übersetzt werden: im bedürftig sein verstanden wir uns.
Später dünnen die Nachrichten aus, magern ab bis zum Schweigen; später ist auch das Nichtschwimmerbecken Internet eines, in dem man untergehen kann.
Betrunken sein unter schubsenden, singenden Anderen. Es ist nicht so, dass ich das nicht versuche mit dem normal sein. Dass ich nicht wüsste, dass Nächte mehr zu bieten haben als Musik und Bücherstapel und Sehnsucht ohne Ort.
Es ist nicht so, dass ich nicht nippe und kaue und schlucke. Dass ich nicht küsse und frage und antworte. Es ist nicht so, dass ich nicht lächle, wenn das richtige Lied mich anfällt.
Es ist nur so, dass ich bloß imitiere. Im Brustraum pochen Leerstellen, mein Puls telegrafiert Nachrichten, die ungehört bleiben. Sobald ich versuche, eine Geschichte zu erzählen, stellt sie ihre eigenen Regeln auf. Drinnen, in meinem Raum, meiner Komfortzone, bilde ich mir Berührung in der Sprache ein, Verstandensein. Draußen verstehe ich, dass es nur Aufprall geben kann. Erschütterungen.
Schreiben, um nicht zu vergessen, das funktioniert nicht, sagt er, weil keiner ehrlich ist, wenn er sich erinnert. Gestern gibt es ein paar Sätze lang Ruhe, weil dich keiner böse überraschen kann. Weil du behaupten und glauben kannst, dass der andere angefangen habe mit der Theorieanwendung Fortgehen. Dass niemals du eine Tür zugeschoben hättest, dass niemals du prophylaktisch kaputt gemacht hättest, was gerade angefangen hatte, zu wachsen. Egal, welchen Namen du der Vergangenheit gibst, sie setzt sich nicht zur Wehr.
Gestern gibt es ein paar Sätze lang Ruhe, aber dann eroberst du mit dem rechten Fuß die Bettdecke zurück, weil du im Halbschlaf vergisst, dass es niemanden gibt, mit dem du um sie kämpfen musst. Gestern lächelst du nicht beim Aufwachen, gestern ist dein Gesicht schweißlackiert vor sauber ausgeführter Angst. Gestern gibt es Spiegel nur, um dir beim Alleinsein zuzusehen.
Gestern macht nicht immun, nicht mal gegen dich selbst. Gestern kann dir keiner mehr etwas wegnehmen, aber du nimmst dir alles, was du für heute brauchen könntest. Schreiben, um nicht zu vergessen, das funktioniert nicht, weil es dann keine neuen Erinnerungen gibt.
Hier läuft es auf Schummrigkeit hinaus und darauf, dass alle da sind. Es läuft darauf hinaus, zu rauchen. Es läuft darauf hinaus, dass alle viele Gedanken und Gefühle haben. Es läuft auf Applaus hinaus und dass ich nicht dabei sein will. Während die Jury offenbart, wer dieses Jahr für wertvoll befunden wurde, will ich Absperrband um meinen Körper wickeln. Das hier ist zu viel, zu laut; das hier steht mir bis zum Hals.
Ich steige aus der Bahn, dein Rücken verschwimmt, geht unter in der Menge und ich denke, es könnte alles auch ganz anders sein, eine neue Hand könnte nach meiner greifen und ich würde mit jemand anderem weiter gehen. Manchmal will ich in Bahnhöfen leben, an Orten, die es nicht wirklich gibt, wo all die kleinen Dinge nicht existieren, die Decken und Kissen, die Platten und Briefe, all die Dinge, die nur scheinbar Halt geben. Es bräuchte Bahnhöfe mit Schwimmbädern: die letzten Reste vom Ich abduschen und unter Wasser neue Regeln aufstellen.
Aber heute gibt es Berlin, gibt es Kurortstimmung in Friedrichshagen. Maßgeschneiderte Dinkelkuchen und Wollkostüme. Haustierreiki, Luftkristallfilter und mediale Vermittlung: Hier ist Raum für alle Überflüssigkeiten, selbst die Wespen wollen nur spielen. Wir tasten uns verschnörkelte Häuserfronten entlang, hier ist doch vor Allem Seewasser mit Möwen darauf, die ungerührt im weichen Wind schaukeln. Neben uns Berliner, die sogenannten richtigen, die auch kein anderes, besonderes Bier trinken. Auch die richtigen Berliner schauen auf den Müggelberg, als läge am anderen Ufer etwas Großes.
Trockenlegung der Blätter auf dem Boden, erste Kastanien wie aufgespießt daneben, ich lese in deinen Fußabdrücken, als wäre das unser erster Herbst. Die Enten starren, eine brotlose Kunst. Ich werfe meine Schuhe in die Luft; vielleicht ist mir der Himmel früher nicht aufgefallen, dieses überschäumende Weiß vor Blau, dieser Kugelflausch am Horizont, mit dem ich um die Wette rennen will. Aus dem Stand in die größtmögliche Geschwindigkeit: die Entfernung zwischen dir und mir kurzschließen. Ich könnte nichts mehr wollen, die Schmauchspuren der Flugzeuge würden nichts bedeuten als Elefanten im Steigflug, vertraute Unmöglichkeit. Das war vielleicht der letzte warme Tag, sagst du, der letzte warme Tag, ehe wir uns in einem Wort zusammen rollen, für den Winter.
Als ich hier anfing, sah ich aus wie ein Junge, bleich und langhaarig und an den falschen Stellen zu dünn. Ich stakste durchs Studentenwohnheim, behindertengerecht nannten sie das, dass der dunkle Flur sich ohne Treppen nach oben schraubt, eine Mischung aus Jugendherberge und Science-Fiction aus den Fünfzigern. Ich saß in der Uni und lernte, dass man nachmittags ruhig den ersten Sekt aufmachen kann und Luftgitarren ein ernst zu nehmendes Seminarthema darstellen. Das hier hätten doch Leute wie ich sein sollen, stille Stubenhocker, und dabei ging es mit dem Saufen, dem Lautsein erst los, ich saß mit Notizbuch und großen Augen in Kellern, auf Dachböden und in Seminarräumen; hätte es einen Panikknopf gegeben, ich hätte ihn nicht loslassen können. Dieses Herzrasen, als es anfing mit dem Texte vorlesen, den Kopf zwischen den Schultern nach unten geschraubt. Als es damit anfing, sich ernst zu nehmen für das, was man tut. Das Schreiben zum ersten Mal „Arbeit“ nennen.
In Hildesheim zu studieren, war, wie in Therapie zu sein. „Wie lange bist du schon hier?“ „Wie lange musst du noch?“ „Was macht dieser Text emotional mit dir?“ Manche waren vorher schon krank gewesen, manche wurden es erst, und an manchen schienst du abzuprallen: sie fläzten sich auf deinen Wiesen, stapften unverdrossen durch deinen Regen, mit ihren Hipsterjeans und Ballettschühchen, mit offenen Haaren und Hemden.
Deine Ureinwohner sind Alte, die aufs Sterben warten oder Teenager mit Zahnspangen, die sich prügeln wollen, dazwischen gibt es nichts, nichts als Studenten, die verzweifelt versuchen, sich nicht zugehörig zu fühlen und in irgendeinem Supermarkt frisches Gemüse zu finden. Alles hier schaut abgestanden aus, ich musste Kassiererinnen erklären, was Basilikum ist und hätte mich danach gern betrunken, ein weiteres Mal.
Ich litt an dir wie ein Hund und bekam Carepakete, von Freunden und Fremden, ich habe in meinem Wohnheimzimmer eindeutig zu viele Jungs geküsst und zu wenige Mädchen. Ich habe ein Menschenleben gerettet und das einer Ente nicht retten können, die deine Einheimischen umgebracht und gegrillt haben, Hildesheim, an deinem beschaulichen See, wo immer mal wieder ein Betrunkener untergeht; Holzkreuze erzählen von René oder André, während nebenan Kopfsprünge geübt werden.
Wer die schlimmste Vorstellung von Provinz mit seinem Alter malnimmt, der weiß, wie es hier aussieht. Es läuft sich, es denkt sich wie durch Sirup durch deine Straßen und Tage und ich habe mich dafür gehasst, genau das zu brauchen, diese ins Minus gedrehte Geschwindigkeit. Ich brauchte diese drei Jahre, in denen ich lachen und weinen lernte, in denen ich aus dieser unsäglichen Taubheit klettern lernte, die mich ausgefranst hatte.
Du zwingst zur Nähe, Hildesheim, du zwingst zu ausgiebigsten Tee- und Bierstunden in WG-Küchen, weil deine Cafés, deine Clubs ihre Namen nicht verdienen. Aus Verbündeten gegen dich werden Freunde, man liegt sich hier rekordschnell in den Armen, jedes Stück Wärme wird geschluckt, damit es sich im Magen hält, auf dem Heimweg. Hinter mir liegen drei Jahre voller Gespräche, eine Tiefe, die ich in Berlin erst suchen muss, weil man hier nicht so leicht in fremde Küchen darf, weil man hier Mittel- und Knotenpunkte suchen muss, Zwischenorte, an Haltestellen gelegen.
Man wird dir nicht gerecht, Hildesheim, weil man sich an dir aufreibt, dich hassen muss und trotzdem an dir gesund wird. Und es braucht Berlin nicht, weil da alle hingehen und immer noch glauben, bei ihnen wäre das neu. Es braucht Berlin, weil ich ein Zuhause brauche, Hildesheim, und dafür taugst du einfach nicht. Ich lasse zentimeterweise Haar zurück, eine Handvoll Illusionen und die Gewissheit, dass du alles verändert hast.
Hab es gut, Hildesheim. Danke für alles.
Als hätten wir nie gelernt, miteinander zu sprechen, die Fremd-Worte zwischen uns fallen schwer von der Zunge, starren uns vom Boden aus an, verständnislos. (Vielleicht habe ich deinen Namen so oft ausgesprochen, dass er müde geworden ist.) Draußen, flügelschlagend: eine höhnische Spatzenkolonne, statt Musik der Beginn eines Erstickens, ich weiß nicht mehr, wie das geht mit dem Atmen, mit allem, mit uns. Da war doch mal Wärme, da war keine Stelle, an der es uns noch nicht gab. Unsere Freundschaft: ein Ort, wo wir nichts erklären mussten. Ein Heimatort, ein Ort gegen die Welt, und jetzt nur noch müder Trailer von gestern, grobkörnig aufgelöst.
Wir sind ökonomisch geworden, wir denken in Kategorien von Pflicht und Investition. Es gibt kein Ziel mehr, das alles aufwiegt, nur die Frage, welchen Preis wir zu zahlen bereit sind, für eine schrumpfende Handvoll gemeinsamer Nenner. (Da kommt etwas Neues, würde ein Muttermund sagen, und was, wenn das Neue, das sich auftut, nur Leere ist?) Ausatmen: Schlussmarkierung. Ich sag dir leise adieu, vielleicht hörst du es dann nicht, vielleicht höre ich es dann nicht, vielleicht ist es dann nicht wahr.
"Mein Leben besteht von jeher aus Versuchen zu schreiben, und meist aus mißlungenen. Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon auf dem Boden, wert hinausgekehrt zu werden. Nun waren meine Kräfte seit jeher jämmerlich klein und so ergab es sich doch, daß ich auf allen Seiten sparen, überall mir ein wenig entgehen lassen müsse, um für das, was mir mein Hauptzweck schien, eine zur Not ausreichende Kraft zu haben. Wo ich es nicht selbst tat, wurde ich zurückgedrängt, geschädigt, beschämt, für immer geschwächt, aber gerade dieses, was mich für Augenblicke unglücklich machte, hat mir im Laufe der Zeit Vertrauen gegeben und ich fing zu glauben an, daß da irgendwo ein guter Stern sein müsse, unter dem man weiterleben könne."
Aus: Kafkas Briefe an Felice, S.65
Stell dir einen Kinosaal vor, in dem es niemanden gibt außer uns. Die Tiefe der Stille zwischen jedem Geräusch. Das Draußen bleibt, wo es hin gehört. Wir sitzen vorn, die Arme verschränkt, unsere Köpfe aneinander gelehnt, ein Versuch von Feuer. Lichtschnüre zu unseren Füßen und die Wände entlang, wir könnten für immer hier sitzen, denke ich, was war, wird nie aufhören, irgendwo platzen die immer selben Wunden auf, aber irgendwo öffnet sich auch immer etwas gen Morgen, irgendwo ereignet sich etwas, ereignen wir uns.
Das hier ist Zukunft, in der ich weiß, dass ich alles schon mitgebracht habe, dass alles in mir eingeschrieben war. Wen ich lieben, an wem ich verzweifeln würde. Was ich zu sagen, zu schreiben hätte. Ein Stück Zukunft, in dem mir niemand näher sein konnte als du.
Die Lektion sterbender Menschen bleibt immer gleich. Wer stirbt, hat begriffen, dass es nichts weiter braucht, als das Meer zu sehen, als ein letztes, ein bewusstes Mal zu tanzen, zu küssen. Wer stirbt, erzählt den Lebenden davon, damit sie nicht den gleichen Fehler machen. Aber sie machen ihn trotzdem. Vielleicht brauchen wir es deswegen noch immer, dieses Sterben.
Und dann kommt der Moment, in dem die Selbstschutzmaschine, die schon auf Autopilot lief, noch ein, zwei Mal knattert und dann wird es still, dann pocht nur noch mein Herzschlag ins Ohr, zu schnell und zu blass sieht es aus, hier, am Ende des Tages. Der Blicksuchdurchlauf strandet an der Notfalltasche, dem kleinen Rucksack voller Dinge, die man braucht, wenn man sich nicht vergeben kann. Alles spielt nur noch die Rolle der anderen, die Rolle derer, die nachts nicht zerfetzt werden vom Gefühl, dass es vielleicht kein Morgen mehr gibt, dass dieser Körper endgültig zu müde ist, um ein weiteres Mal aufzustehen und in einen Tag zu gehen, der sich nicht lohnen wird, weil ich nicht dort bin, wo ich sein will. Weil niemand neben mir aufwachen wird, weil mich niemand an den Menschen erinnert, der ich gern geworden wäre. (Der Traum vom gelingenden Leben ist mein Lieblingssymptom.) Das ist der Moment, in dem ich in jedes fremde Gesicht auf der Straße schreien möchte, nimm mich mit, hol mich heim, wo auch immer das sein mag.
und was, wenn ich immer noch wissen will, was du tust. und wie du es tust. wo du hin willst. wir haben uns verändert, aber wir sind immer noch internetmädchen, mit schönen fotos, die wir vorzeigen, und angst im bauch, die wir vorzeigen, aber nicht so, dass man uns verstehen könnte, wirklich verstehen. vieles ist anders und besser geworden, aber ich falle immer noch, weißt du, ich atme immer noch in diesem körper, der in regelmäßigen abständen SOS pulst und dann liege ich in meinem bett am rand der welt und versuche, mich zu erinnern, dass ich immer wieder aufgestanden bin. dass es weiter ging. ich will dir sagen, dass du mich so verdammt beeindruckt hast, mit allem, was du bist. mit deinem trotz, deiner wut und deiner freude. ich will nicht, dass du das aufgibst. ich weiß, dass du dich durchbeißen kannst, wenn du zornig genug bist. und ich will dich irgendwann mal oben sehen, in irgendeinem scheinwerferlicht, und dann will ich sagen, dass ich dich kannte. von anfang an.
Über allem Trauern den Moment verpassen, wenn die Wunde bereit ist, im weichen Gewebe des Bauches unterzugehen. Platz zu machen. Über allem Schmerz von gestern vergessen, dass Dinge besser geworden sind. Über allem gerettet werden wollen nicht einsehen, dass es dafür zu spät ist. Im besten Sinn.
findet da ein Kribbeln statt zwischen uns,
sag, sind wir Passanten
oder sprechen wir uns einen Schritt
nach vorn?
zwischen uns ist Wetter, schlohweiß
legt es sich über die Wärme
deiner möglichen Briefe.
Fußspuren einer Fotografie: dein Sepiablick,
deine ungekämmten Augen, grobkörniger Gruß
und Morgen: ein stumpfes Gefühl.
sag, sind wir Passanten?
deine Sternzeichen nehmen sich verdammt vage aus
und dein Lachen klingt irgendwie
ökumenisch.
einen Anfang vorausgesetzt -
wann werden wir Archivgeräusch sein?
Ich bin also die, die ihr Herz zu oft den Falschen in die Hand gedrückt hat, damit sie es mitnehmen, an einen besseren Ort. Die gute Tage in großen Stücken schluckt, damit es länger warm bleibt im Magen.
Die, die dir dazwischen kommt. Die dich mit dem Mund angeht.
Die Geschichte, von der es zu viele Fassungen gibt. Die Fremde, zu der man nicht gehört, weil sie zu hartnäckig beim Verzweifeln ist. Die Witzfigur, die alle paar Wochen zu Boden geht und von Notfallmedizinern neue Diagnosen geschenkt bekommt. Die nicht oben schwimmen kann, weil sie zu lange unter Wasser geatmet hat.
Die so sehr ein Zuhause braucht, dass niemand es ihr geben kann. Die nicht weiß, wie das gehen soll, sich dem Leben aussetzen. Deren Gesicht aus Zucker ist; es verschwindet im Regen.
http://www.youtube.com/watch?v=zTGXUC5ul6Y
Unter der Woche reicht unser Blick bis zur Tür. Wir müssen gefasst sein auf Gamaschenweiß, auf vermessenes Magenta und bewegungsloses Gelb. Wer uns besucht, hat schlechte Nachrichten im Gepäck. Unsere Kunden haben Knopfaugen und Reißverschlussstimmen. Sie wollen unsichtbare Flicken, und sie wollen sie jetzt. Sie legen korkbraune Hosen und Rhabarberrüschenröcke auf den Tisch. Unser Nein liegt scharf unter Zungenpapier, wir können es uns nicht leisten. Schlammtöne verfolgen uns im Schlaf. Zum Trost beißen wir Butterkeksen die unsauberen Ränder ab. Dem Kaffee fehlt Milchzuversicht. Wir flicken mürrisch dünn gewordene Stellen; ungezählte Sicherheitsnadeln sind schon über Bord gegangen. Ich werfe Perlen vor deinen Saum; wir streiten um Borten und Stichlängen. Mittags pausen wir Worte vom Reißbrett und schneiden ein Lächeln zurecht. In unseren Jackentaschen klappern Notfallnadelkissen; an unseren Händen sind Stiche zu sehen.
Im Urlaub zupfen wir gedankenverloren an Tischdecken und Kellnerschürzen. Wir schließen Hotelzimmertüren, öffnen Hemd- und Blusenkragen, fühlen nichts vom Teppich, auf dem wir stehen - seine Fransen krallen sich unerkannt um unsere Füße. Das Rot deiner Baumwolle: satt wie ein erster Schluck Wein. An meinen Oberschenkeln sammelt sich Tüll. Deine Hand nimmt die erste Etappe; sie kocht alle Farben ein. Dein Kuss schmeckt nach Cordresten.
Zuhause will ich würziggrüne Karos und kokosnussweißen Samt. Wir greifen blind ins Stoffregal; nur mit geschlossenen Augen erkennen wir, was wir wollen. Wir prellen die Verkäufer um gerechte Preise, wir geben uns kühn. Kaum haben wir den Laden verlassen, greifen wir in die Taschen. Andacht im Fühlen, wir wollen es glatt und schimmernd und unverbraucht. Das Weiche ist unser Gewinn.
Wahrscheinlich kannst du nicht fassen, wie schnell die Jahre vergangen sind, Tove, warum sollte es dir besser gehen als mir. Wie stellst du dir mich vor? Vielleicht bin ich ein alter Bibliothekar mit Nickelbrille, der nachts die Seitenzahlen der Bücher überprüft, nicht bei Kerzenlicht, das wäre zu gefährlich. Vielleicht bin ich Waffenhändler und überschlage die Leben, die ich zu verantworten habe, wenn ich nicht schlafen kann. Vielleicht bin ich Zeitungsausträger, einer von denen, die tagsüber nicht funktionieren und nachts dafür sorgen, dass die Normalen ihren Tag wie gewohnt beginnen können. Die Normalen, mit ihren beruhigenden Frisuren, die ein Leben ohne Mobiltelefon für kompliziert halten, die für einen Strauß Blumen vier Wochen Rückgaberecht erwarten, die Normalen, die glücklich vor sich hin leben wollen, für eine bessere Statistik. Die Normalen, die ihren Kick durch Reflexion bekommen, aber verdammt noch mal, Alufolie reflektiert auch. Am stumpfsinnigsten ist es, etwas Sinnvolles tun zu wollen. Hat das Leben uns überstimmt, Tove? Reichen unsere Fünf-Minuten-Fluchten nicht mehr, die Zigarette nicht, der immer zu bittere Kaffee nicht, die Fünf-Minuten-Illusion, nur juristisch erwachsen zu sein? Hast du die Suche nach nostalgischen Metaphern für Musik durch Interpretennamen ersetzt, hast du das erste Auto gekauft, die erste Wohnung gemietet?
Hast du festgestellt, dass Reisen nicht mehr reicht, um Erinnerungen zu produzieren, und dass der Alltag schweres Handwerk ist? Der Pflichtteil heißt Träumen, Tove, und vielleicht bist du ein Versager geworden, aufgeschwemmt im bodenständigen Gefühl volljähriger Sätze. Versagen heißt, deine Traurigkeit nicht mehr zu brauchen, versagen heißt, dass alles an seinem Platz ist. Versagen heißt, dass dir die Worte ausgehen. Es gibt Wichtigeres als das Schreiben, sonst gäbe es nichts, worüber man schreiben kann, eines Tages, nicht heute. Ich schreibe nicht mehr. Das hier ist nur die Einleitung zu einem Brief an dich, Tove, eine Einleitung, mit der du mich finden kannst. Wenn du es willst.
Die Stelle, an der wir angefangen haben, läuft im Repeat – ich spule nach vorn. Pflichtteil Traum: Wir brauchen die Wunden nur, um uns am nächsten Morgen zu erinnern, dass wir bereit waren, uns zu verletzen. Aber was verstehen wir schon vom Träumen, unsere Worte gehorchen uns nicht mal im Schlaf.
Der Alltag ist ein strapaziertes Paradies. Wir haben Urlaubsgesichter aufgesetzt, wir sind Rucksacktouristen im Land des Suffs und pilgern uns elend. Die Nacht fällt vor uns auf die Straße, unser “Wir” kriecht auf allen Vieren. Mein Körper kennt 142 Worte für Schmerz, sage ich und sehe dir zu, wie du weg schaust. Die Kompassnadel auf deiner Haut schlägt in die falsche Richtung aus. Deine Zehen sind am Boden fest getackert, an deiner Überzeugung, dass am Ende doch alles gut wird. Diese Überzeugung, die dir ein Leben, wie du es führst, nicht austreiben kann. Du weißt nicht, wie man fällt.
Hunt your karma down. Ich wurde nicht dazu geboren, mich kurz zu fassen. Ich wurde nicht geboren, um es dir leicht zu machen. Ein Herz ist kein brennbares Material. In meinem Gesicht steht ein unbeholfen gemaltes Lächeln und sagt: „Ich habe nicht gut für mich gesorgt.“ Ich wünschte, ich wäre besser im Leben. Ich wünschte, ich könnte deinen Daumen in meinen Mund schieben und schlafen.
Das Meer schickt Blaufrequenzen aus. Dieser Tag ist kein Farbfehler; wir staunen Küsten und inhalieren Wolken. Möwenrundflug statt Mittagsschlaf. Wir werden vom Wind bestürmt; unsere Sohlen erzählen sich Sandgeschichten, erzählen von Eiscreme und Sonnenkugelbäuchen. Auf unserer Decke liegen Wäschenester; Fische sind uns voraus. Wir umschwimmen die Quallen mit ihren aufgeschwemmten Gesichtern, wir betasten Muschelnähte und lassen uns von Marienkäfern trocknen; sie arbeiten im Schichtdienst auf unseren Armen. Der Horizont kocht Schiffsmeldungen ein: Heute sammeln wir Himmelsrichtungen.
Du brauchst niemanden, der dich rettet. Du brauchst jemanden, der dich an den Menschen erinnert, der du sein kannst.
Dieses Leben ist die Geschichte, die du nicht erfinden kannst. Dieses Leben ist der Ort, wo du überwinterst, wo du immer neue Unmöglichkeiten in fremde Ohren flüsterst und das Lächeln des Gefesselten lächelst, des Verletzten, der weiß, dass nichts Gutes zu erwarten ist. Der bereit ist, an jedes Versprechen zu glauben und an keins. (Dieses Leben ist für den, der nicht bleiben kann.) Dieses Leben ist wie dieser Tag immer dasselbe, dieser Tag beugt sich über dich und erklärt, du seist zu leicht, zu schwer gewesen. Dieser Tag geschieht nicht einfach. Dieser Tag zielt auf dich. Hol ihn heim und tausch sein Herz aus. Hör auf, vor deiner Stille Angst zu haben. Du bist spät dran. Mit dir.
“In meiner Hand liegen drei Wünsche und ich frage mich, ob Sparsamkeit nicht eine Form von Sterben ist.“
Ich habe an mir selbst gespart, an der Möglichkeit von Freude.
Stranden an schuldlosen Fingern, an Brüsten unter Spitzenhemdchen und geweißten Schatten unter den Augen - ich war eine Spitzfindigkeit zwischen schafblutroten Lippen und wollte gerettet werden. Aber wer retten will, spürt nur sich selbst in jeder Umarmung, versucht sich selbst am Ertrinken zu hindern. Man kann nicht bei dem bleiben, der retten will; er kostet zu viel.
Ich war eine Geschichte von Echos. Die Sätze lappten übereinander, hymenlos, und jetzt werfe ich mein Herz gegen die eigene Wand, löffle Suppendunkel aus der eigenen Hirnschale.
Die Suche nach dem Glück steht im umgekehrten Verhältnis zur Fähigkeit, es finden, es ertragen zu können. Es wird keine neue Projektions-Stelle vergeben. Vielleicht hat Narziss heute Nacht die Stadt verlassen.
Bleib, wo du schweigst - es steht noch ein Morgen aus und er, in der Ferne, geht mit mir durch den Tag.
Wer zieht dich aus?
Wer putzt dir die Zähne?
Wer hält aus, was du an dir nicht erträgst?
Ist der Satz “Ich verstehe dich” eine Lüge?
Ist es ein Ziel, nirgendwo ankommen zu wollen?
Wann nimmst du dich ernst?
Was willst du?
Taugst du zum Leben?
Bist du erleichtert, wenn man dich durchschaut?
Lässt sich von diesem Tag mehr erwarten, als dass er dem vorherigen nicht gleicht?
Was macht dich besser?
Bilddank an Christian Kintner