Passenger
Noch bevor die S-Bahn einfährt, sehe ich sie, meinen Zwilling, größer und schwerer als ich, die Haare rot und kurz geschoren, trotzdem sind wir gleich, richten unsere Blicke unsicher auf die spiegelnden Fenster, zupfen an Schal und Mantel, als könnte uns das beruhigen, und als sie zu sprechen beginnt, beißt sich jedes Wort in meine Magengrube. „Er lebt einfach weiter, als wäre nichts gewesen, und ich stecke fest und komme nicht vorwärts.” Er, das könnte ein Vater sein, ein Liebhaber oder auch Gott; es spielt keine Rolle. Ihre Freundin, die Stichwortgeberin, bringt das Schlagwort „Therapie“ ins Spiel und erntet heftiges Nicken: „Stimmt, ich bin weitergekommen, ich habe Therapie gemacht. Ich setze mich auseinander und er verdrängt alles nur!“ Ich schaue in ihr bleiches Gesicht, taste meine eigene blasse, kalte Stirn entlang, ich stelle mir vor, wie auch ihre Hände zu zittern beginnen, sobald sie aufgeregt oder überfordert ist, wie nach und nach ihr ganzer Körper bebt, wie ihre Zähne aufeinander zu schlagen drohen, wenn ihr einfällt, eine Rechnung nicht rechtzeitig beglichen zu haben, wenn jemand sie anschreit oder wenn sie mit jemandem spricht, den sie eigentlich küssen will. Menschen wie wir, denke ich, bleiben an Therapie hängen, wir verpassen den Moment, der Schubhilfe geben kann und klammern uns fest. Weil ein Therapeut sich immer auf unsere Seite schlagen wird, und genau das hat uns ein Leben lang gefehlt. Auch wenn er das nur tut, weil es sein Job ist, weil er dafür mehr Stundenlohn bekommt, als wir je erreichen werden mit unseren Bruchlebensläufen, bleiben wir, fragen noch einmal nach, rufen jeden Schmerz wach, an den wir uns nur flüchtig erinnern, wir wecken jeden schlafenden Hund, wir fangen an, den Schmerz wichtiger zu nehmen als den Rest, wir bleiben einfach stehen, auf Alarmstufe Rot, und glauben, dass wir auf diese Weise heil werden könnten. Und unsere Väter, unsere Liebhaber nehmen unterdessen sich selbst wichtig, sich ganz und gar, nicht nur ihren Anteil Schmerz. Vor meinem inneren Auge werden wir älter, mein Zwilling und ich, ich sehe, wie sich Falten in unsere Gesichter graben, ich sehe, wie wir uns damit zufrieden geben, die Verantwortung auszulagern, einen Vater, einen Liebhaber, einen Therapeuten damit zu beauftragen, uns von wahr und falsch zu erzählen, auf dass wir uns nicht mehr allein fühlen mit dem Gewicht der Entscheidungen, die wir treffen müssen, jeden Tag.
Passenger Noch bevor die S-Bahn einfährt, sehe ich sie, meinen Zwilling, größer und schwerer als ich, die Haare rot und kurz geschoren, trotzdem sind wir gleich, richten unsere Blicke unsicher auf die spiegelnden Fenster, zupfen an Schal und Mantel, als könnte uns das beruhigen, und als sie zu sprechen beginnt, beißt sich jedes Wort in meine Magengrube. „Er lebt einfach weiter, als wäre nichts gewesen, und ich stecke fest und komme nicht vorwärts.” Er, das könnte ein Vater sein, ein Liebhaber oder auch Gott; es spielt keine Rolle. Ihre Freundin, die Stichwortgeberin, bringt das Schlagwort „Therapie“ ins Spiel und erntet heftiges Nicken: „Stimmt, ich bin weitergekommen, ich habe Therapie gemacht. Ich setze mich auseinander und er verdrängt alles nur!“ Ich schaue in ihr bleiches Gesicht, taste meine eigene blasse, kalte Stirn entlang, ich stelle mir vor, wie auch ihre Hände zu zittern beginnen, sobald sie aufgeregt oder überfordert ist, wie nach und nach ihr ganzer Körper bebt, wie ihre Zähne aufeinander zu schlagen drohen, wenn ihr einfällt, eine Rechnung nicht rechtzeitig beglichen zu haben, wenn jemand sie anschreit oder wenn sie mit jemandem spricht, den sie eigentlich küssen will. Menschen wie wir, denke ich, bleiben an Therapie hängen, wir verpassen den Moment, der Schubhilfe geben kann und klammern uns fest. Weil ein Therapeut sich immer auf unsere Seite schlagen wird, und genau das hat uns ein Leben lang gefehlt. Auch wenn er das nur tut, weil es sein Job ist, weil er dafür mehr Stundenlohn bekommt, als wir je erreichen werden mit unseren Bruchlebensläufen, bleiben wir, fragen noch einmal nach, rufen jeden Schmerz wach, an den wir uns nur flüchtig erinnern, wir wecken jeden schlafenden Hund, wir fangen an, den Schmerz wichtiger zu nehmen als den Rest, wir bleiben einfach stehen, auf Alarmstufe Rot, und glauben, dass wir auf diese Weise heil werden könnten. Und unsere Väter, unsere Liebhaber nehmen unterdessen sich selbst wichtig, sich ganz und gar, nicht nur ihren Anteil Schmerz. Vor meinem inneren Auge werden wir älter, mein Zwilling und ich, ich sehe, wie sich Falten in unsere Gesichter graben, ich sehe, wie wir uns damit zufrieden geben, die Verantwortung auszulagern, einen Vater, einen Liebhaber, einen Therapeuten damit zu beauftragen, uns von wahr und falsch zu erzählen, auf dass wir uns nicht mehr allein fühlen mit dem Gewicht der Entscheidungen, die wir treffen müssen, jeden Tag.
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Noch bevor die S-Bahn einfährt, sehe ich sie, meinen Zwilling, größer und schwerer als ich, die Haare rot und kurz geschoren, trotzdem sind wir gleich, richten unsere Blicke unsicher auf die spiegelnden Fenster, zupfen an Schal und Mantel, als könnte uns das beruhigen, und als sie zu sprechen beginnt, beißt sich jedes Wort in meine Magengrube. „Er lebt einfach weiter, als wäre nichts gewesen, und ich stecke fest und komme nicht vorwärts.” Er, das könnte ein Vater sein, ein Liebhaber oder auch Gott; es spielt keine Rolle. Ihre Freundin, die Stichwortgeberin, bringt das Schlagwort „Therapie“ ins Spiel und erntet heftiges Nicken: „Stimmt, ich bin weitergekommen, ich habe Therapie gemacht. Ich setze mich auseinander und er verdrängt alles nur!“ Ich schaue in ihr bleiches Gesicht, taste meine eigene blasse, kalte Stirn entlang, ich stelle mir vor, wie auch ihre Hände zu zittern beginnen, sobald sie aufgeregt oder überfordert ist, wie nach und nach ihr ganzer Körper bebt, wie ihre Zähne aufeinander zu schlagen drohen, wenn ihr einfällt, eine Rechnung nicht rechtzeitig beglichen zu haben, wenn jemand sie anschreit oder wenn sie mit jemandem spricht, den sie eigentlich küssen will. Menschen wie wir, denke ich, bleiben an Therapie hängen, wir verpassen den Moment, der Schubhilfe geben kann und klammern uns fest. Weil ein Therapeut sich immer auf unsere Seite schlagen wird, und genau das hat uns ein Leben lang gefehlt. Auch wenn er das nur tut, weil es sein Job ist, weil er dafür mehr Stundenlohn bekommt, als wir je erreichen werden mit unseren Bruchlebensläufen, bleiben wir, fragen noch einmal nach, rufen jeden Schmerz wach, an den wir uns nur flüchtig erinnern, wir wecken jeden schlafenden Hund, wir fangen an, den Schmerz wichtiger zu nehmen als den Rest, wir bleiben einfach stehen, auf Alarmstufe Rot, und glauben, dass wir auf diese Weise heil werden könnten. Und unsere Väter, unsere Liebhaber nehmen unterdessen sich selbst wichtig, sich ganz und gar, nicht nur ihren Anteil Schmerz. Vor meinem inneren Auge werden wir älter, mein Zwilling und ich, ich sehe, wie sich Falten in unsere Gesichter graben, ich sehe, wie wir uns damit zufrieden geben, die Verantwortung auszulagern, einen Vater, einen Liebhaber, einen Therapeuten damit zu beauftragen, uns von wahr und falsch zu erzählen, auf dass wir uns nicht mehr allein fühlen mit dem Gewicht der Entscheidungen, die wir treffen müssen, jeden Tag.
Passenger Noch bevor die S-Bahn einfährt, sehe ich sie, meinen Zwilling, größer und schwerer als ich, die Haare rot und kurz geschoren, trotzdem sind wir gleich, richten unsere Blicke unsicher auf die spiegelnden Fenster, zupfen an Schal und Mantel, als könnte uns das beruhigen, und als sie zu sprechen beginnt, beißt sich jedes Wort in meine Magengrube. „Er lebt einfach weiter, als wäre nichts gewesen, und ich stecke fest und komme nicht vorwärts.” Er, das könnte ein Vater sein, ein Liebhaber oder auch Gott; es spielt keine Rolle. Ihre Freundin, die Stichwortgeberin, bringt das Schlagwort „Therapie“ ins Spiel und erntet heftiges Nicken: „Stimmt, ich bin weitergekommen, ich habe Therapie gemacht. Ich setze mich auseinander und er verdrängt alles nur!“ Ich schaue in ihr bleiches Gesicht, taste meine eigene blasse, kalte Stirn entlang, ich stelle mir vor, wie auch ihre Hände zu zittern beginnen, sobald sie aufgeregt oder überfordert ist, wie nach und nach ihr ganzer Körper bebt, wie ihre Zähne aufeinander zu schlagen drohen, wenn ihr einfällt, eine Rechnung nicht rechtzeitig beglichen zu haben, wenn jemand sie anschreit oder wenn sie mit jemandem spricht, den sie eigentlich küssen will. Menschen wie wir, denke ich, bleiben an Therapie hängen, wir verpassen den Moment, der Schubhilfe geben kann und klammern uns fest. Weil ein Therapeut sich immer auf unsere Seite schlagen wird, und genau das hat uns ein Leben lang gefehlt. Auch wenn er das nur tut, weil es sein Job ist, weil er dafür mehr Stundenlohn bekommt, als wir je erreichen werden mit unseren Bruchlebensläufen, bleiben wir, fragen noch einmal nach, rufen jeden Schmerz wach, an den wir uns nur flüchtig erinnern, wir wecken jeden schlafenden Hund, wir fangen an, den Schmerz wichtiger zu nehmen als den Rest, wir bleiben einfach stehen, auf Alarmstufe Rot, und glauben, dass wir auf diese Weise heil werden könnten. Und unsere Väter, unsere Liebhaber nehmen unterdessen sich selbst wichtig, sich ganz und gar, nicht nur ihren Anteil Schmerz. Vor meinem inneren Auge werden wir älter, mein Zwilling und ich, ich sehe, wie sich Falten in unsere Gesichter graben, ich sehe, wie wir uns damit zufrieden geben, die Verantwortung auszulagern, einen Vater, einen Liebhaber, einen Therapeuten damit zu beauftragen, uns von wahr und falsch zu erzählen, auf dass wir uns nicht mehr allein fühlen mit dem Gewicht der Entscheidungen, die wir treffen müssen, jeden Tag.