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17.06.2016 index Internet Archive

aus Wörtern ein Zuhause bauen.

Vor deinem Tod habe ich Jahre damit zugebracht, aufs Sterben zu warten. Nacht für Nacht hörte ich meinem Herzrasen zu, die Augen angstweit geöffnet, der Blick im abstrakten Dunkel des Zimmers verloren gegangen. Das Sterben und ich, das war ein privater Krieg, ein Kampf, den ich jede Nacht aufs Neue ausfocht und aus dem ich mit tiefen Augenringen erwachte. Ein Sisyphuskampf und damit: erwartbar. Das immerhin ist das Gute an einem bunten Strauß Neurosen: Sobald das Adrenalin aufgebraucht ist, glaubt man allen Ernstes, Kontrolle zu haben.

Und jetzt? Jetzt greift mir jede Todesanzeige direkt in den Magen. Jedes Blatt vom letzten Herbst sieht mir wie ein Vorbote aus; das tote Vogeljunge im Hinterhof betrauere ich wie einen Freund. Jetzt erst erkenne ich, dass ich nicht allein auf diesem Schlachtfeld stehe. Dass links und rechts von mir Menschen fallen, ja, niedergemäht werden. Der Feind bleibt unsichtbar, auch nach Tausenden von Jahren.

Seit du fort bist, habe ich begriffen, dass jeder Tag eine einzige Unwahrscheinlichkeit ist. Dass wir uns jeden Tag gegen die Statistik stemmen. Das kann nicht gutgehen; erst recht kein ganzes Leben lang.

Angst vor dem Sterben hat nur der, der noch nicht alles gesagt hat. Das Einzige, was jetzt noch zählt, was jetzt mehr als je zuvor zählt, ist das Schreiben. Die Angst mit jedem Kapitel außer Kraft setzen. Aus Wörtern ein Zuhause bauen. Ich will zurück in die Welt finden, in der es dich gab. In der du von mir nicht nur das wusstest, was ich mit dir war, sondern alles, was ich sein könnte. Und ich will, ich muss die Welt entdecken, in der ich zu ertragen gelernt habe, dass es dich nicht mehr gibt.




28.05.2017 index Internet Archive

aus Wörtern ein Zuhause bauen.

Vor deinem Tod habe ich Jahre damit zugebracht, aufs Sterben zu warten. Nacht für Nacht hörte ich meinem Herzrasen zu, die Augen angstweit geöffnet, der Blick im abstrakten Dunkel des Zimmers verloren gegangen. Das Sterben und ich, das war ein privater Krieg, ein Kampf, den ich jede Nacht aufs Neue ausfocht und aus dem ich mit tiefen Augenringen erwachte. Ein Sisyphuskampf und damit: erwartbar. Das immerhin ist das Gute an einem bunten Strauß Neurosen: Sobald das Adrenalin aufgebraucht ist, glaubt man allen Ernstes, Kontrolle zu haben.

Und jetzt? Jetzt greift mir jede Todesanzeige direkt in den Magen. Jedes Blatt vom letzten Herbst sieht mir wie ein Vorbote aus; das tote Vogeljunge im Hinterhof betrauere ich wie einen Freund. Jetzt erst erkenne ich, dass ich nicht allein auf diesem Schlachtfeld stehe. Dass links und rechts von mir Menschen fallen, ja, niedergemäht werden. Der Feind bleibt unsichtbar, auch nach Tausenden von Jahren.

Seit du fort bist, habe ich begriffen, dass jeder Tag eine einzige Unwahrscheinlichkeit ist. Dass wir uns jeden Tag gegen die Statistik stemmen. Das kann nicht gutgehen; erst recht kein ganzes Leben lang.

Angst vor dem Sterben hat nur der, der noch nicht alles gesagt hat. Das Einzige, was jetzt noch zählt, was jetzt mehr als je zuvor zählt, ist das Schreiben. Die Angst mit jedem Kapitel außer Kraft setzen. Aus Wörtern ein Zuhause bauen. Ich will zurück in die Welt finden, in der es dich gab. In der du von mir nicht nur das wusstest, was ich mit dir war, sondern alles, was ich sein könnte. Und ich will, ich muss die Welt entdecken, in der ich zu ertragen gelernt habe, dass es dich nicht mehr gibt.